|
1888 - 1918
Wilhelm II.
Nach dem Tod Wilhelm I. am 9. März 1888
und des Kehlkopfkrebs-kranken Friedrich I: (III.) am 15. Juni 1888 wurde
in diesem sogenannten Drei-Kaiser- Jahr der erst 28jährige Wilhelm II.
Preußischer König und Deutscher Kaiser.
Die Aufgabe, vor die Wilhelm II. gestellt war, konnte gelöst werden mit viel Menschenkenntnis, mit
Fleiß und einer weltoffenen Humanität; daran fehlte es, zu schweigen
von dem Mangel an Toleranz gegenüber anderen Völkern oder
Volksgruppen. Er blieb in die Pflichten und Rechte der
preußischen und der Reichsverfassung eingebunden, war zugleich für die
Mehrheit der Bevölkerung repräsentierender und regierender Staatsmann,
sah sich als Nachfahre Friedrichs des Großen angesprochen, obwohl er im
Wandel seiner Rollen das Bewußtsein der Schwäche, Unsicherheit,
Bestimmbarkeit, der Durchschnittlichkeit und der körperlichen
Behinderung immer wieder durchlitten und mit seiner raschen
Auffassungsgabe, mit Charme und mit Repräsentations-Triumphen zu
überwinden hatte. Denkmalsenthüllungen,
Stapelläufe, Jagden und Reden über Reden, seit 1906 maßvoller
werdend, kennzeichneten seine unstete und zerrissene Natur. Der Kaiser gab in vielem als Wortführer der
Deutschen nur Stimmungen und Tendenzen Ausdruck, die in weiten Teilen
der Bevölkerung verbreitet waren. Die Distanz Wilhelms II. zu Preußen beruht mithin
nicht nur auf einem gewissermaßen oberflächlichen Bevorzugen der
Reichssphäre mit der scheinbar glanzvolleren Krone.
|
Wilhelm II.
|
Es war vielmehr das
spezifische, von den Widerständen her angereizte und verhärtete
Dynastie-Denken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das ihm
Stabilität in seiner widerspruchsvollen Existenz garantierte. In dem latenten Konflikt
Preußen — Reich hatte der Staat Friedrichs des Großen deshalb keine
Unterstützung durch die Dynastie zu erhoffen. Die bestehenden Bindungen
unterhalb des Verfassungsrahmens waren personeller, traditioneller und
materieller Art; sie wurden am engsten noch im Militärwesen
aufrechterhalten. Dem Verhängnis ging
letztendlich die gesamte alte Führungsschicht Preußens entgegen, die
am forcierten Kriegsschiffbau interessierten Stahl- und
Elektro-Industriellen eingeschlossen, zu schweigen von einer
Bevölkerung, die sich in ihrer Mehrheit getreulich auf »Staatskunst
und Kriegshandwerk« verließ.
Sturz Bismarcks
Der Lotse geht
von Bord
|
Nach dem Sturz Bismarcks (20. März 1890) durch
Wilhelm II. sind unter dem Reichskanzler Caprivi, der zugleich
Preußischer Ministerpräsident war, (bis 23. März 1892, danach Botho
von Eulenburg) eine Reihe kleinerer Reformen durchgeführt worden. Der
Finanzminister Johannes Miquel änderte das Einkommensteuergesetz zugunsten
einer progressiven Einkommensteuer; der Einkommensteuersatz erhöhte
sich nun von 0,62 Prozent (900 bis 1050 Mark) bis zu dem erregenden Satz
von vier Prozent (über 100 000 Mark). Gegenüber der bisherigen
Klassensteuer kamen höhere Erträge ein, durch die mittelbar
Gemeindefinanzen aufgebessert werden konnten, weil der Staat nunmehr
zugunsten der Gemeinden auf die Grund- und Gebäudesteuer sowie auf die
Gewerbesteuer verzichten konnte. Problematisch blieb jedoch bis 1918 die
Frage der Steuergerechtigkeit, weil der Grundsatz der
Selbsteinschätzung der Steuerpflichtigen beibehalten wurde. Auf dem
Land gehörte die Selbsteinschätzung zum Aufgabenbereich der Landräte,
die mitunter im Interesse des sozialen Friedens innerhalb der
begüterten Oberschicht erstaunlich gleichförmige
»Selbsteinschätzungen« vorgenommen haben.
|
Weiterhin bestanden
unvertretbare Unterschiede zwischen Stadt und Land. Im Kreis Landsberg
an der Warthe betrug 1908 die jährliche Einkommensteuerbelastung pro
Kopf für das Land 1,70 Mark, für die Stadt jedoch 5,20 Mark. In
einzelnen Landgemeinden ist die Freigrenze von 900 Mark von der gesamten
bäuerlichen Bevölkerung (mit Ausnahme des staatstreuen Lehrers) in
Anspruch genommen worden, während den Arbeitern die Steuer sogleich vom
Tagelohn abgezogen, den Gewerbetreibenden nach Maßgabe der
Buchabschlüsse berechnet wurde. Im Durchschnitt ist in den östlichen
Provinzen bei der Landwirtschaft nur der vierte Teil des Einkommens
versteuert worden.
Ein begrenzter Erfolg konnte 1891 mit der Reform der
Landgemeindeordnung für die sieben östlichen Provinzen erreicht werden. Die
Konservativen als Interessenpartei der Landwirtschaft verwässerten
jedoch das überfällige Gesetz, indem sie für jede Fusion von
Landgemeinden und Gutsbezirken einen Beschluß des Staatsministeriums im
Gesetz festschreiben ließen. Auf diese Weise sind bis 1913 964 von den
rund 16000 öffentlichen und privaten »Gutsbezirken« beseitigt worden.
Die Staatsregierung erwies sich als zu schwach, um hier weitere Reformen
durchzusetzen.
Wirtschaft
Der Bau des Mittellandkanals ist durch die
Konservative Partei verzögert worden. Der Kanal sollte als erster
großer westöstlicher Binnenschiffahrtsweg die Elbe mit Weser und Rhein
verbinden. Berlin sollte den direkten Anschluß an die Kanalsysteme des
Ruhrgebietes finden. Die Kanalbauvorlage ist 1899 und 1901 im
Abgeordnetenhaus zu Fall gebracht worden, weil die Konservativen
befürchteten, durch verbilligte Frachtraten könnte sich die Konkurrenz
überseeischen Getreides verstärken, die Eisenbahn aber, die mit ihren
Überschüssen die Staatsfinanzen füllte, würde Schaden leiden. Der
Kaiser hatte sich für den Kanalbau besonders eingesetzt. Er fühlte
sich von der »grenzenlosen Borniertheit« und dem »junkerhaften
Übermut« der Abgeordneten zur »Fehde« herausgefordert und hat - rechtlich anfechtbar
- zwei Regierungspräsidenten und achtzehn
Landräte, die an der Abstimmung beteiligt waren, vorläufig
verabschieden lassen.
Das Verhältnis von Monarch und den »Agrariern«
blieb bis 1909 gestört. Bülow, als Ministerpräsident, hat 1905 die
Kanalvorlage in verstümmelter Form (Verzicht auf das Verbindungsstück
zwischen Hannover und der Elbe) vom Landtag bewilligt erhalten, nachdem
der Kaiser ihn aufgefordert hatte, dem »Bund der Landwirte« und dem
agrarischen Flügel der Konservativen »eines auf den Kasten« zu geben.
Die Arbeitslosigkeit in Ost- und Westpreußen
hatte dazu geführt, daß zwischen 1871 und 1905 rund
siebenhunderttausend Menschen aus Ostpreußen und eine halbe Million
Menschen aus Westpreußen abgewandert.
|
Bülow
|
Eisenbahnverwaltung und Generalstab sprachen sich für den
Kanalbau aus. Heydebrand, der Führer der Konservativen (zum Ärger des
Kaisers als »ungekrönter König von Preußen« bezeichnet), obsiegte.
Während des Krieges, als der Kanal sowie andere Versäumnisse im
Wasserstraßenausbau im Herrenhaus zur Sprache kamen, erkannten die
Konservativen ihre Torheit. Denn auch das Getreide der Ostprovinzen
hätte billiger auf seine Märkte befördert werden können.
Die Antihaltung der Konservativen richtete sich in
erster Linie gegen die Einschnürung Preußens durch das Reich, gegen
den Liberalismus als Vertretung einer zu weit gehenden Demokratisierung,
gegen die Sozialdemokratie als Klassenkampf- und Umsturzpartei, gegen
die an niedrigen Zöllen interessierte Industrie, gegen alle Formen der
Bildungs- und Sozialpolitik, die den besitzenden Klassen auf dem Lande
zusätzliche Kosten auferlegen könnte. Mit dieser Grundstimmung der
Angst vor Reformen und der Pfennigfuchserei, wie sie in der gesamten,
nicht nur ostelbischen Landbevölkerung verbreitet war, war politisch
wenig Staat zu machen. Die
Aufhebung des Dreiklassenwahlrechtes hätte das konservative
»Bollwerk« Preußen über Nacht zum Einsturz gebracht. Daß damit eine
»beständige Demütigung der Bevölkerung« verbunden war, nahm man in
Kauf. Mit dem Fraktionsführer Ernst von Heydebrand verfügte die durch
politische und soziale Inzucht deformierte Partei über einen
tatkräftigen, aber engstirnig-ungewandten Führer. Daß ein solcher
Mann die Regierungspartei in Preußen anführen konnte, zeigte, wie sehr
sich bessere Köpfe konservativer Richtung der politischen Arbeit für
»Preußen« entfremdet hatten.
Eine vordergründige Betrachtung muß zu dem Ergebnis
kommen, daß Preußens Staatsverwaltung mit der um die
Verwaltungsgerichtsbarkeit (1883) erweiterten Rechtspflege und mit der
ausgebreiteten kommunalen Selbstverwaltung den Landesbewohnern ein
Maximum an Ordnung und Fürsorge gewähren konnte. Genaueres Hinsehen
zeigt, daß die enge Anbindung Preußens an das Reich zu einem
Stillstand in der gesamten Verfassungsentwicklung geführt hat. Die
Vorrechte Preußens im Reich waren kompensiert durch Pflichten und
Rücksichten. Jeder andere Bundesstaat genoß mehr Selbständigkeit:
Bayern blieb Bayern. Preußen aber denaturierte zu einer mit
Traditionsfahnen behängten und mit kaiserlichen Sonntagssprüchen
abgespeisten übergroßen Reichsprovinz. Wie ein Symbol dieses Wandels
wirkte die nunmehrige Reichshauptstadt Berlin, in der ein braver
Altpreuße kaum mehr seines Königs Residenz erkennen konnte.
Verhältnis Preußen - Reich
Der Staat entbehrte einer kraftvollen Führung.
Das
Experiment eines besonderen Ministerpräsidenten ist seit 1894 nicht
mehr wiederholt worden. Teilweise nahmen Staatssekretäre des Reiches in
Personalunion preußische Ministerämter wahr, ein Zustand, der nicht
einmal in der Weimarer Republik vor 1932 zu beobachten ist. Je mehr sich
die Selbstverwaltungs-Körperschaften in allen Provinzen ausbildeten und
an politischem und administrativem Selbstbewußtsein gewannen, desto
stärker verstanden sich in der Regel die provinzialen Behörden als
Exekutiv-Organe der Berliner Zentrale.
|
Miquel
Finanzminister
|
Das Eigenleben der Provinzen
konnte sich jedoch weiter entfalten. Aber die Zukunft Preußens
hing von der
Neugestaltung der Verfassung ab. Es war ein historisches Versäumnis der
im übrigen sämtlich nichtpreußischen Familien entstammenden
Reichskanzler seit 1890, dem Kaiser nicht die Zustimmung zur Reichs- und
Staatsreform abgetrotzt zu haben. Als das Herrenhaus am 10. Januar 1914
einen Grundsatzantrag des Grafen Yorck von Wartenburg verhandelte (»Das
Herrenhaus wolle beschließen — die Königliche Staatsregierung zu
ersuchen, im Reich dahin zu wirken, daß der Stellung Preußens, auf die
es seiner Geschichte und seinem Schwergewicht nach Anspruch hat nicht
durch eine staatsrechtliche Verschiebung der Verhältnisse zu Ungunsten
der Einzelstaaten Abbruch geschieht«), hielt Bethmann Hollweg eine
epigonenhafte Rede, die Programm und Impuls vermissen ließ.
Ulanenoffizier
|
Die Sitzung
wirkte wie »das selbstgesetzte Epitaph des alten Preußen«. Es war spät, aber noch nicht zu spät. Immer noch hätte die
Verfassungsproblematik aufgegriffen werden können. Auch während des
Krieges blieb die Wahlrechtsreform ein Objekt halbherziger Debatten. Allein der
»Militärstaat« Preußen griff im
Zusammenhang mit der Heeresverfassung des Reiches über die
Landesgrenzen hinaus. Die Ansprüche und die Arroganz des militärischen
Elementes in Staat und Gesellschaft sind jedoch bei weitem nicht
überall widerspruchslos hingenommen worden. Auch gab es stille Kämpfe
zwischen der Beamtenschaft und Teilen des Offizierskorps. Fontane
kritisierte wiederholt die pennälerhafte Arroganz des »preußischen
Leutnants«:
|
Zu erinnern ist an die Tatsache, daß
die Bevölkerung in West und Ost das Heer, das sie mittelbar und
unmittelbar immer wieder kennenlernte, als ein Stück des Staates
begriff; daß sich die sozialen Gruppen trotz einiger Potsdamer und
sonstiger Exklusivitäten vermischten und abschliffen und daß man bei
allen sozialen Schichten in der Regel stolz darauf gewesen ist, bei
»Preußens« gedient zu haben.
Selbst die Sozialdemokraten konnten sich den
positiven Erscheinungen und Auswirkungen des preußischen Militärwesens
nicht entziehen. Ihre Partei verdankte damals der militärisch straffen
Organisation einen Teil der Erfolge. Der Abgeordnete Noske, dem noch
spezielle Erfahrungen mit der Macht im Staate bevorstanden, verwies 1907
im Reichstag darauf, daß in keiner Institution der Welt die krassen
Gegensätze so schroff aufeinanderstießen wie beim Militär,
insonderheit bei der deutschen Armee zwischen Offizier und Mannschaft.
Bilanz
Als Wilhelm II. 1913 sein 25jähriges
Regierungsjubiläum als Kaiser und König feierte, konnte Preußen —
trotz mancher Schwächen — im Vergleich mit anderen Staaten Europas
als ein ungewöhnlich moderner Staat angesehen werden, in dem »sich
leben ließ«. Es war ein Staat, der trotz seiner konservativen
Strukturen viele Strömungen der Zeit aufnahm und verarbeitete, der auf
vielen Gebieten, insbesondere der Wissenschaften, der Wirtschaft und der
Technik enorme quantitative und qualitative Fortschritte zu verzeichnen
hatte. Als Teil des Reiches, aber mit seinen eigenen Kräften hatte er
Formen und Verfahren entwickelt, die der Bevölkerung mehr als anderswo
das Ende einer sozialen Elendsstrecke verhießen. Rechtssicherheit und
Sozialversicherung, Bildungsmöglichkeiten und Pressefreiheit,
Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer und Wohnungsbau,
Einkommenssteigerungen und individuelle Mobilität - es gab nur wenige
Gebiete, auf denen Preußen den Vergleich mit anderen Ländern zu
scheuen hatte. Die Verantwortung für den sozialen Status des
Individuums war insgesamt im Wachsen begriffen. Vieles unterschied sich
bereits von dem sozialen Kannibalismus mancher anderer Staaten. Alles
kam mithin darauf an, das Erreichte auszubauen und dafür den Frieden zu
erhalten.
Erster Weltkrieg
Der Kriegsausbruch von 1914 ist in Schuld
und Mitschuld der beteiligten Mächte ein europäisches Ereignis gewesen. Für
Preußen bedeutete der Krieg die Schicksalsstunde auf dem Wege zur
Staatsauflösung. Das Versagen der Führung bestätigte, daß Regierende aus
älteren Konfliktlagen kaum etwas zu lernen vermögen. Die Mitschuld des
Herrschers bestand darin, ohne gründliche Beratungen und Informationen
über die Leistungsfähigkeit Österreich-Ungarns, ohne Sondierung der
russischen Position den Schritt auf eine schwere Balkankrise hin eingeleitet
zu haben.
|
Verlesung des Mobilmachungsbefehls
|
Drei Wochen später befand er sich mit einem
wenig beweglichen Kanzler, mit einem zu kleinen Landheer, einer zu großen
Flotte und mit einem hinter den Erfordernissen der Zeit zurückgebliebenen
Grad der Demokratisierung in Preußen in einer Weltkrise. Spätestens
der 27. Juli, als Englands Vorschlag für eine Botschafterkonferenz einging,
wäre der Tag des Kaisers gewesen, an dem der Kanzler notfalls mit der Waffe
des Vertrauensentzuges hätte gezwungen werden müssen, den
Konferenzvorschlag anzunehmen und Wien von der Kriegserklärung an Serbien
abzubringen.
Der Verlust der altpreußischen
Traditionen auf dem Gebiet des Militärwesens setzte, bereits unter
Friedrich Wilhelm IV. ein. Die Zustände während der Märzrevolution
bezeichneten schlagartig den Zerfall der einheitlichen Kommandogewalt. Im
Bismarckreich hat sich dieser durch den Heereskonflikt eher noch verstärkte
Prozeß fortgesetzt. Der Reichskanzler war nicht nur formal der Chef der
Reichskriegsverwaltung, und Roon hat gegen Bismarck vergeblich versucht,
Reichskriegsminister zu werden.
Für den ersten Krieg gilt das Gleiche wie
für den zweiten. Er war für Deutschland an dem Tag verloren, an dem er
begonnen wurde. Den eine Million zweihundertvierzigtausend Soldaten der
Mittelmächte standen mindestens zweieinhalb Millionen Soldaten der Entente
(Landstreitkräfte) gegenüber, dazu kam die große Überlegenheit der
alliierten Flotten, die Möglichkeiten der Seeblockade und überhaupt der
höhere Grad der Militarisierung (Rüstungsausgaben) in Rußland
(fünfunddreißig Prozent), in Frankreich (sechsundzwanzig Prozent) und
England (etwa zwanzig Prozent) und in Preußen-Deutschland (1914: etwa
neunzehn Prozent).
Schlieffen
|
Das Gebiet der Mittelmächte war um 1914 in einem
Mehrfrontenkrieg nur in der Defensive haltbar. Die von überholten
Vorbildern bestimmte Niederwerfungsstrategie des Berliner Generalstabes
(Schlieffenplan) mußte scheitern. Unter der Führung vornehmlich
preußischer Generäle und im Namen des Kaisers sind die preußischen und
gesamtdeutschen Kräfte in Offensiven verschleudert worden. Ein Kräfte- und
Intelligenzpotential wurde verschwendet, als seien Europas Kräfte
unerschöpflich.
|
Der Krieg bedeutete in fast jeder
Hinsicht eine Revolution, eine Revolution des Denkens sowohl wie der
sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ordnungen, der technischen
Entwicklung, die nicht nur aufgehalten, sondern in vielen Bereichen
gesteigert und beschleunigt wurde. Aus der politischen und moralischen
Katastrophe des Krieges ist im Wechselschritt von Aktion und Reaktion die
Oktoberrevolution in Rußland, der Diktatfrieden von Versailles, die vor
allem durch Kapitalmangel ausgelöste Weltwirtschaftskrise und der Aufstieg
Hitlers und seiner Bündnispartner erwachsen, mit allen Folgen bis zur
Gegenwart hin. Eingeschlossen war in diesen Prozeß der Abstieg der
europäischen Kulturen auf einer Erdkugel, dessen Zivilisationen nicht ohne
intakte Leitbilder zu erhalten sind.
So große militärische Leistungen die
durch die Schule des preußischen Generalstabes gegangenen Offiziere von
1914 bis 1918 im Einzelfall vollbracht haben, so muß doch die Bewertung des
Generalstabes als Institution von anderen Kriterien ausgehen. Die
Oberste Heeresleitung sei »seit langem frontfremd geworden«, urteilte der
kampferfahrene General von Lossberg im Juli 1918.
Bei Kriegsbeginn wurde deutlich, wie auch
Preußens Schicksal an die Leistungsfähigkeit einiger weniger
Persönlichkeiten gebunden war. Kaum ein bedeutender Kopf aus den älteren
und neueren Provinzen Preußens mit der Autorität des Diplomaten oder
Militärs hat die Stimme erhoben, um den Schleier der Illusionen von den
Augen der in altgewohnter Weise Regierenden zu reißen.
Die preußischen Ostprovinzen konnten mit
mehreren zum Teil kriegsgeschichtlich bedeutenden Schlachten (23. bis 31.
August: Tannenberg) von den eingedrungenen russischen Armeen befreit werden.
Am Jahresende sah jedoch die Bilanz für die Mittelmächte ungünstig aus.
Das deutsche Feldheer hatte achthundertvierzigtausend Mann verloren, unter
ihnen hundertfünfzigtausend Gefallene (11. November 1918: 1834524 Tote,
4215773 Verwundete). Im November 1914 bestätigte sich dem Nachfolger
Moltkes, dem aus Westpreußen stammenden Generalleutnant Erich von
Falkenhayn, dessen Einsicht, daß es ein Volkskrieg werden würde.
|
Bergung der Toten
|
Dieser würde nicht mit einer entscheidenden Schlacht abzumachen sein, sondern
es würde ein
langes mühevolles Ringen mit einem Lande sein. Die
5. Armee (Deutscher Kronprinz), mit dem 3. Armeekorps, führte auf Befehl
Falkenhayns vor Verdun einen alles verheerenden Abnutzungskampf (21. Februar
bis 2. September 1916). Der Kronprinz, ohne militärische Urteilskraft und
auch sonst nicht zu friderizianischem Verhalten geneigt, versagte in dieser
Lage ebenso wie seine Stabsoffiziere. Der Angriff wurde nicht rechtzeitig
eingestellt. Dabei war der Kronprinz, weich und pessimistisch, durchaus
kriegsunlustig und verlangte von Bethmann Frieden, »selbst mit
Grenzabtretungen in Lothringen« (Frühjahr 1917).
Da ein Verständigungsfrieden im Westen
nicht möglich erschien, mußte wenigstens der Versuch unternommen werden,
mit Rußland zu einem Sonderfrieden zu gelangen. So sollte die Ostflanke des
Reiches mindestens auf einige Zeit neutralisiert werden. Die Politik der 3.
Obersten Heeresleitung hat aber die Chancen der Entlastung im Osten
weitgehend ungenutzt gelassen. Nach dem Zurückweichen der russischen
Truppen zwischen Februar- und Oktoberrevolution (1917) stellte sich für den
Osten das Gefühl eines Ersatz-Sieges ein, verbunden mit einem geradezu
rauschhaften Ausgreifen nach Rohstoff- und Ernährungs-Räumen. In den
preußischen Ostprovinzen blieben dagegen weit dringendere Probleme
ungelöst. Die Proklamation eines selbständigen
Königreichs Polen mit erblicher Monarchie und konstitutioneller Verfassung
(5. November 1916), von Hindenburg und Ludendorff wegen der dortigen
»Menschenreserven« (»hunderttausend Mann«) verlangt und durchgesetzt,
erwies sich als ein glatter Fehlschlag und strategischer Mißgriff. Die
Kriegs- und Friedenspolitik der 3. Obersten Heeresleitung im gesamten
Ostraum zwischen Finnland und der Ukraine nach dem Waffenstillstand mit
Rußland (15. Dezember 1917) ergab somit für die preußischen Ostprovinzen
verheerende Folgen. Es wäre der Lage im Westen angemessen gewesen, nach dem
Frieden von Brest-Litowsk (3. März 1918) auf die Grenzen von 1914
zurückzugehen, unter vorläufiger Einbeziehung des Generalgouvernements
Warschau in den Besatzungsbereich der Mittelmächte. Die Zerstreuung und
Überspannung der Kräfte durch Ludendorff hat dagegen dazu geführt, daß
in der Waffenstillstandskrise die Ostgebiete von kampffähigen Truppen
entblößt waren.
|
Seit dem Sturz Bethmann Hollwegs (14. Juli
1917) erreichte die »Nebenregierung« Hindenburgs und Ludendorffs den
Höhepunkt. Die Eingriffe der 3. Obersten
Heeresleitung in das Staatsleben haben die »Mediatisierung« Preußens, wie
sie dann in der Weimarer Republik zu beobachten ist, teilweise
vorweggenommen.
|
Ludendorff
|
Die Reichsämter, die neuen Kriegsbehörden und vor allem
die Heeresleitung selbst benutzten die preußischen Behörden als
nachgeordnete Vehikel zahlloser Maßnahmen und Forderungen, ohne daß aus
dem Staatsministerium sich noch ein besonderer politischer Wille hätte
artikulieren können.
Zusammenbruch
Der Krieg hat den inneren Zusammenbruch
der konservativen Strukturen Preußens beschleunigt. Der Machtverfall wurde
erkennbarer. Zersplitterung der Verantwortlichkeiten lähmte die zentrale
Staatsarbeit auf vielen Gebieten. Trotz des Krieges, der die Bevölkerung
aller Provinzen zu schweren Opfern zwang, unterließ es die Staatsregierung,
in wesentlichen Fragen (Steuerreform) zugunsten der schwächeren Gruppen
massiv einzugreifen. Das letzte königliche
Staatsministerium, in seinen Sitzungen überwiegend mit der Wahlrechtsreform
beschäftigt, setzte sich aus den Herren Friedberg (Vizepräsident), Drews (lnneres),
Hergt (Finanzen), Scheüch (Kriegsminister), Spahn (Justiz), Schmidt-Ott
(Kultus), von Eisenhart-Rothe (Landwirtschaft), Fischbeek (Handel) und von
Breitenbach (Öffentliche Arbeiten) zusammen. Die Minister hielten
ungerührt ihre Sitzungen ab, bis die ersten Schüsse der Revolution fielen.
Auf der Berliner Museumsinsel mußten die Bauten nicht
abgebrochen werden. Noch vor Kriegsende konnte in Kiel die Grundsteinlegung
des Instituts für Weltwirtschaft vorgenommen werden. Das Kultusministerium
befaßte sich vielmehr damit, Vorschläge für eine Kunstakademie in
Warschau (Herbst 1916) zu entwickeln und die Wiederbegründung der
baltischen Universität Dorpat zu fördern. An den preußischen
Universitäten lief der Lehrbetrieb uneingeschränkt weiter.
Die Gestalt Hindenburgs begann seit
Tannenberg die schmächtigere Figur des Kaisers im öffentlichen Bewußtsein
zu verdrängen. Wenn Preußens König in Koblenz, Posen oder Homburg den
Generalissimus mit einem Anflug von Devotion wie einen Bundesfürsten zum
Kraftwagen geleitete, so mußte es wie ein Symbol wirken. Friedrich der
Große hatte keinen General an sich vorbei aufwachsen lassen. Es fehlte
Wilhelm II. auch an Regenteninstinkt. Der Hindenburg-Kult erwies sich als
einer der Nägel zum Sarge der Hohenzollern-Monarchie.
|
Wilhelm II. mit Hindenburg
und Ludendorff
|
Als am 26. Oktober
1918 im Berliner Schloß Bellevue Bilanz gezogen und Ludendorff wegen
erneuter politischer Pressionen nach einer Auseinandersetzung seine
Entlassung erhielt, beging Wilhelm II. den Fehler, Hindenburg - der
ebenfalls den Abschied als Generalstabschef erbeten hatte - zum Bleiben
aufzufordern. Hindenburg ging darauf ein. Er hat dann seinerseits vierzehn
Tage später dem Kaiser den Abschied gegeben. Normalerweise hätten
Hindenburg und Ludendorff wieder eine Heeresgruppe übernehmen müssen. Es
bezeichnet den Zerfall der Prinzipien des preußischen Offiziersstandes in
dieser Phase, daß Ludendorff mit dem Blick auf das Scheitern seiner
politischen Führerrolle abrupt aus der Armee ausschied. Er
vollzog »den Bruch mit den bisher als unverbrüchlich geltenden
Grundpflichten des preußischen Offiziers: Gehorsam gegen den königlichen
Befehl.
Das Ende der Monarchie ereignete sich im
Herbst 1918 mit der Unerbittlichkeit einer Tragödie. Die zivile und
militärische Umgebung des Kaisers versagte weitgehend in den kritischen
Novembertagen. Nicht um die derangierte Person Wilhelms II. ging es
letztlich den noch aufrichtigen Interessenvertretern Preußens, sondern um
den Fortbestand einer wie immer konstituierten Monarchie in Deutschland,
daneben um das Ansehen Preußens und seiner Dynastie. Hierfür waren
Optionen offen zu halten. Manches spricht dafür, daß dies für eine Reihe
von Monaten gelungen wäre. Die wenigsten bemerkten (den Kaiser
eingeschlossen), daß der Monarch trotz Revolution und der ungesetzlichen
Republik Proklamationen eine Trumpfkarte besaß, die ihm kaum entrissen
werden konnte: Nur er konnte rechtsverbindlich den Verzicht auf die Krone
aussprechen und die Eide der Soldaten und Beamten lösen. Die Figur des
Kaisers, so wie er in Unschlüssigkeit, Sprunghaftigkeit und Illusionismus
beschaffen war, bedurfte besonders in dieser Lage einer Lenkung. Eine
Regentschaft hätte — dies läßt sich im Rückblick erkennen — der
Festigung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland eine größere
Chance eröffnet. Die Realität bestand darin, daß
sich 1918 nach einer dreißigjährigen Regierung kaum noch eine
einflußreiche Hand für den Kaiser regte, so als hätte er bereits die
Krone niedergelegt. Seine Fehlentscheidungen während des Krieges hatten
seine Position geschwächt. Es waren die falschen Strategen berufen worden.
Über Hindenburg und Ludendorff hatte er die Kontrolle verloren und Bethmann
Hollweg zum ungünstigen Zeitpunkt und ohne geeigneten Ersatz entlassen.
Letzte Rettungsversuche
Mit der sogenannten »Osterbotschaft« (7.
April 1917), die für Preußen das geheime und unmittelbare Wahlrecht und
eine Reform des Herrenhauses verheißen hatte, war nichts Definitives
zugesagt worden, verbindliche Termine fehlten. Konservative,
Freikonservative und Nationalliberale verschleppten hilflos-verblendet die
Wahlrechtsvorlage, lehnten sie im Mai 1918 sogar ab. Die Abdankung war schon lange im Gespräch
gewesen.
Schon im April 1917 hatte der Kaiser beiläufig bemerkt, er wisse,
daß er nun um seine Krone kämpfen müsse. Alle
Hoffnungen, vierhundert Jahre nach der erfolgreichen Niederwerfung des
Quitzow-Aufstandes, verloren sich rasch. Am 4. November geriet Kiel in die
Hände der »Roten Matrosen«. Aufstände und Straßenkämpfe kündigten die
Phase der revolutionären Neubildungen und Aktionen an. Hindenburg und
Groener kamen in der Nacht vom 8. zum 9. November unter dem Eindruck der
Hiobsbotschaften aus Teilen des Reiches zu dem Ergebnis, daß eine
militärische Aktion gegen die Aufständischen unter Führung des Kaisers
keine Aussicht auf Erfolg habe.
|
Einzug der Matrosen in Berlin
|
Ein
Abtreten des Kaisers mußte kurzfristig die Folge haben, von der
diktatorischen und katastrophalen Politik der 3. Obersten Heeresleitung
abzulenken und die innerdeutsche Schuldproblematik stärker auf den Kaiser
zu lenken. Das Königsopfer wog aus militärischer Sicht leichter als ein
»Hindenburg-Opfer«, da Hindenburg das Heer zurückführen sollte. In der
entscheidenden Besprechung am Vormittag des 9. November, in einem kalten
Gartensaal eines Hotels in Spa, führte der Süddeutsche Groener angesichts
des düster schweigenden Hindenburg den entscheidenden Schlag gegen die
Monarchie in Deutschland und Preußen: »Das Heer wird unter seinen Führern
und Kommandierenden Generalen in Ruhe und Ordnung in die Heimat
zurückmarschieren, aber nicht unter dem Befehl Eurer Majestät, denn es
steht nicht mehr hinter Eurer Majestät.«« Der Fahneneid sei in solcher
Lage eine »Fiktion«. Groener hatte das Votum der gleichzeitig befragten
neununddreißig Frontoffiziere rhetorisch und provokatorisch zugespitzt.
Lediglich die preußischen Generäle von Plessen und von der Schulenburg
widersprachen dem Generalquartiermeister mit Schärfe, bestimmt von weniger
Pessimismus und größerer Weitsicht. Als am frühen
Nachmittag aus Berlin die Meldung der unautorisiert bekanntgegebenen
Abdankung zusammen mit weiteren Aufstandsnachrichten eintraf, verlor man in
Spa den letzten Rest an Kaltblütigkeit und Überblick.
Abdankung
Hindenburg, der Ersatz-Kaiser, meinte nun,
den Herrscher überhaupt nicht mehr schützen zu können: »Ich muß Eure
Majestät dringend ersuchen, sofort abzudanken und nach Holland abzureisen.
Ich kann es als preußischer General nicht verantworten, daß sie von ihren
eigenen Truppen verhaftet und der revolutionären Regierung ausgeliefert
werden.«
Am 28. November hatte der Kaiser nach
hartnäckig geführten Verhandlungen mit Staatssekretär von Hintze die
Abdankungsurkunde unterzeichnet:
»Ich verzichte hierdurch für alle
Zukunft auf die Rechte an der Krone Preußens und die damit verbundenen
Rechte an der deutschen Kaiserkrone... Wilhelm.« Der Ex-Monarch entband
alle Bediensteten ihres Treueids und forderte sie auf, den »Inhabern der
tatsächlichen Gewalt in Deutschland« dabei behilflich zu sein, das Volk
gegen Anarchie, Hungersnot und Fremdherrschaft zu schützen. Eine mit
großem Atem geschriebene Proklamation des Rückblickes und des Dankes
blieb aus.
|
|
Die preußische Geschichte kennt keine
ähnliche Bankrotterklärung der Generalität. Admiral Scheer, dessen Flotte
in diesen Tagen nur noch Schrottwert besaß, schloß sich der Erklärung
Hindenburgs an. Im Osten wie im Westen gab es jedoch intakte Truppenteile,
zu denen sich Wilhelm II. auf dem Land-, Luft- oder Seewege hätte begeben
können. Der Ebert-Regierung wäre eine Erklärung zuzustellen gewesen, daß
die Funktionen des Monarchen bis zu einer Volksabstimmung über die
Monarchie ruhten. Der »König« in Wilhelm riet zum Ausharren. Der
»Dynast« mit internationalem Sonderstatus gab dem erneuten scharfen
Drängen Hindenburgs und Groeners jedoch nach. In der Morgendämmerung des
10. November glitt der Hofzug der holländischen Grenze entgegen.
Fünf Jahrzehnte vor 1918 hatte der Ablösungsprozeß
der Hohenzollern vom preußischen Staat begonnen. Wilhelm I. hatte sich,
als es 1871 einen ersten Abschied zu nehmen galt, an das absinkende
Preußen geklammert und doch nicht verhindern können, daß sich das
»Reich« über seinen Kopf hinweg entwickelte und ihn selbst sogar mit
einem etwas anderen Herrscherbewußtsein durchsetzte. Er hatte schon
damals jammernd erkannt, daß mit der Kaiserkrone das alte Preußen untergeht.
|
|