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1861 - 1888
Heeres- und Verfassungskonflikt
Wenn sich um 1860 eine gewisse Bindung eines großen
Teils der national und liberal Gesinnten an Preußen ergeben hatte, so
trat bald ein Wandel ein, der hauptsächlich auf den preußischen
»Heereskonflikt« zurückging. Eine Reform der bewaffneten Macht
betrachtete Wilhelm I., der 1861 (nach dem Tode Friedrich Wilhelms IV.) in
Königsberg zum König gekrönt worden war, als persönliche und höchst
wichtige Aufgabe, um so mehr, als die 1859 durchgeführte Mobilmachung
schwerwiegende Mängel der Heeresverfassung hatte offenbar werden lassen.
Das von Wilhelm I. so nachdrücklich
geforderte Reformgesetz entwarf Kriegsminister Albrecht Graf von Roon, der
es 1860 dem Abgeordnetenhaus vorlegte. Er war neben dem Generaladjutanten
Gustav von Alvensleben und dem Chef des Militärkabinetts, Edwin von
Manteuffel, der wichtigste Mitarbeiter des Regenten auf militärischem
Gebiet. Zunächst war geplant, die bereits seit 1856 wieder gültige
dreijährige Dienstzeit erneut gesetzlich zu fixieren. Da die
Einwohnerzahl des Landes im Zeitraum von 1817 bis 1857 von 11 auf 18
Millionen angestiegen war, sollte das Feldheer von 40.000 auf 63.000 Mann
vermehrt werden. Gleichzeitig war ein zahlenmäßiger Abbau der Landwehr
beabsichtigt, vor allem dadurch, daß ihre drei jüngsten Jahrgänge der
Reserve der Linientruppen zugeschlagen wurden.
Die Sonderstellung der Landwehr war
damit beseitigt, was rein militärtechnisch gewiß vertretbar erschien,
aber auch eine politische Konsequenz hatte, denn dies bedeutete einen
Bruch mit dem Wehrgesetz von 1814, das der damalige Kriegsminister Boyen
aus dem Geist der »Stein-Hardenbergschen Reformen« und der
»Befreiungskriege« geschaffen hatte. Im Offizierskorps
der Linienregimenter dominierte nämlich eindeutig der Adel, während die
Landwehr eine große Zahl bürgerlicher Offiziere aufwies. Die
Durchführung der Reform hätte also die soziale Geltung des Bürgertums
im Heere nachhaltig getroffen. Der Krone und ihren wichtigsten
militärischen Ratgebern kam es nicht zuletzt darauf an, aus der Armee
eine wirksame Waffe gegen den politischen Umsturz zu schmieden, indem man
sie parlamentarisch- konstitutionellen Einflüssen und Kontrollen entzog
und sie soweit wie möglich an die Person des Herrschers band.
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Krönung Wilhelm I. in
Königsberg
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Solche
politisch-sozialen Erwägungen erklären die Erbitterung, mit der die
liberalen Kräfte in Parlament und Presse gegen die Pläne der Regierung
Sturm liefen, wobei sich der Streit mehr und mehr auf die dreijährige
Dienstzeit zuspitzte. Die Entscheidung hierüber wurde für beide Seiten
allmählich zur Prestigefrage.
Zahlreiche altliberale Abgeordnete waren
bereit, eine engere Verbindung von Linientruppen und Landwehr zu
akzeptieren, um auf diese Weise Armee und Nation in engere
Berührung zu bringen, sollte doch der preußischen Militärmacht bei der
Förderung der deutschen Einheit gegebenenfalls eine bedeutende Rolle
zufallen; sie verlangten aber den Übergang zur zweijährigen Dienstzeit.
Eine Verständigung schien unmöglich, weshalb die Regierung ihren
Reformentwurf zurückzog und beim Landtag lediglich die Bewilligung der
Kosten für die Neuorganisation beantragte, um die Kampfbereitschaft
aufrechtzuerhalten. Dieses »Provisorium«, das bis 1. 7. 1861 befristet
war, wurde vom Abgeordnetenhaus fast einstimmig gebilligt und im Frühjahr
1861 verlängert.
Der König und seine militärischen
Ratgeber beriefen sich mehr und mehr auf den Vorrang des Monarchen in
Fragen der militärischen Organisation, auf die dem Abgeordnetenhaus kein
Einfluß zustehe. Dem Parlament sollte also lediglich die Genehmigung der
notwendigen Finanzmittel zufallen, während die liberale Kammermehrheit
darauf beharrte, gerade über die Länge der Dienstzeit mitzuentscheiden,
da sie tief in das Leben der Bürger eingreife und deshalb einer
gesetzlichen Regelung unter Mitwirkung des Parlaments bedürfe. So wurde
aus der Heeresreform eine grundsätzliche Verfassungsfrage, in der beide
Seiten glaubten, keinerlei Konzessionen machen zu können. Während die
»Fortschrittspartei« ein parlamentarisches Regierungssystem anstrebte,
lehnte es der König nachdrücklich ab, sich zum »Sklaven des
Parlaments« machen zu lassen.
Bismarck
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Die unverändert vorgelegte Heeresreform
wies das Abgeordnetenhaus zurück. Ein deutliches Signal für die
verschärfte Situation war der Rücktritt der liberalen
Kabinettsmitglieder im März 1862. Auch die Auflösung der Kammer und die
daraufhin durchgeführten Neuwahlen brachten keine Lösung im Sinne des
Monarchen, da die Mandate der »Fortschrittspartei« — trotz massiver
Wahlbeeinflussung durch die Regierung - weiter zunahmen und die
Konservativen nur noch über 11 Abgeordnete (von 352) verfügten.
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Bismarck wird Ministerpräsident
So wurde der Staatshaushalt für 1863
vom Parlament nicht verabschiedet, weshalb man von konservativer Seite die
Ansicht äußerte, daß die Regierung in diesem Falle die Geschäfte auf
der Basis des letzten genehmigten Etats weiterzuführen habe. Es handelte
sich um die sogenannte »Lückentheorie«, die auf die Staatslehre des
hochkonservatiyen Juristen und Politikers J. Stahl zurückging. Sie
besagt, die Verfassung weise eine Lücke in dem Falle auf, daß sich
Krone, Abgeordnetenhaus und Herrenhaus über das Budget nicht einigen
könnten; dann liege die Entscheidungskompetenz beim Monarchen, da er die
Konstitution erlassen habe. Wilhelm I. war entschlossen, abzudanken, falls
er keinen Minister fand, der bereit war, sich die - juristisch gesehen
recht kühne - »Lückentheorie« zu eigen zu machen. In dieser Lage war
der Herrscher bereit den besonders von Roon geförderten Gesandten in
Paris, Otto von Bismarck, zum Ministerpräsidenten zu ernennen. Königin
Augusta warnte vor seiner Ernennung. Wilhelm I. hatte sich nur schweren
Herzens zu diesem Schritt entschlossen. Der neue Ministerpräsident trat
sein Amt in der Absicht an, den Konflikt mit dem Abgeordnetenhaus zu
entschärfen; er versuchte, die Liberalen mit einem Appell an ihr
Nationalgefühl zu gewinnen, und deutete Kompromißbereitschaft in der
Frage der zweijährigen Dienstzeit an, doch konnte Bismarck die Kluft
zwischen Krone und Parlament nicht überbrücken. Das Jahr 1863 war von
harten Kampfmaßnahmen der Regierung gekennzeichnet: Das Parlament wurde
erneut aufgelöst, und die Exekutive erhielt sehr weitreichende Rechte zur
Pressezensur. Dieser rigorose Kurs kostete Preußen
zweifellos viele Sympathien innerhalb der deutschen Nationalbewegung.
Handelsverträge
Mit den politischen Vorgängen war die
wirtschaftliche Entwicklung eng verknüpft. Ende März 1862, also noch vor
Bismarcks Amtsantritt, hatte die preußische Regierung einen
Handelsvertrag mit Frankreich abgeschlossen, der den Verzicht auf
Schutzzölle und damit den Übergang zum Freihandel bedeutete. Bereits
1860 war ein entsprechendes Abkommen zwischen England und Frankreich
getroffen worden, so daß Preußen Anschluß an eine westeuropäische
Freihandelszone gewonnen hatte.
Ein Großteil der adligen und
bürgerlichen Gutsbesitzer, vor allem die am Getreideexport nach England
interessierten, begrüßten diesen Schritt, während das Echo in Kreisen
der Industrie nicht einhellig positiv ausfiel, da zahlreiche Eisen- und
Textilindustrielle die außerpreußische Konkurrenz fürchteten. Für die
Regierung bedeutete der Vertrag auch ein außenpolitisches Druckmittel
Österreich gegenüber, dessen Industrie der preußischen unterlegen war
und das deshalb auf Schutzzölle nicht verzichten konnte. Berlin hoffte,
mit Hilfe wirtschaftlicher Maßnahmen Österreich zu Konzessionen in der
Bundesreform zu veranlassen.
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Königshütte Schlesien
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Die Regierungen in München und
Stuttgart kritisierten heftig die Einführung des Freihandels, der in
diesen Ländern auch bei liberalen Unternehmern weithin auf Ablehnung
stieß. So hatte die Regierung in Wien nicht allzu viel Mühe, die meisten
Mittel- und Kleinstaaten in eine antipreußische Frontstellung zu bringen.
Allerdings lösten sich Bayern und Württemberg bald wieder von der
österreichischen Linie und versuchten, die Selbständigkeit der
Mittelstaaten stärker herauszustreichen. Im Herbst 1864 schließlich
mußten die süddeutschen Länder unter dem Druck Berlins ihren Widerstand
aufgeben und sich dem preußisch-französischen Handelsvertrag
anschließen, wobei aber auch der ungewöhnliche wirtschaftliche
Aufschwung Preußens in diesen Jahren eine gewisse werbende Kraft
entfaltete.
Der »Deutsch-Dänische Krieg« 1864
Im Zusammenhang mit der Revolution von
1848 hatte die provisorische Regierung von Schleswig und Holstein
Bundestruppen ins Land gerufen, um die Abtrennung der Elbherzogtümer von
Dänemark durchzusetzen Preußische Verbände, die im Auftrag des Bundes
den Kampf führten, waren militärisch durchaus erfolgreich gewesen und
bis Jütland vorgedrungen, was allerdings England und Rußland auf den
Plan rief. Beide zwangen aus maehtpolitisch-strategischem Interesse am
»Bosporus der Ostsee« mit einer Interventionsdrohung die Regierung in
Berlin zum Abschluß des Waffenstillstands von Malmö (August 1848), der
den Rückzug der preußischen Truppen aus den Herzogtümern festlegte.
In Kopenhagen gewann die
nationalliberale Strömung der »Eiderdänen« zunehmend an Einfluß, was
in der 1863 vorgelegten Verfassung offenbar wurde, die für Dänemark und
Schleswig, nicht aber für Holstein galt. Diese setzte der neue König aus
der Glücksburger Linie, Christian IX., kurz nach seiner Thronbesteigung
in Kraft. Damit aber hatte er gegen die Rechtsgrundlage des »Londoner
Protokolls« verstoßen, das unter der Voraussetzung zustande gekommen
war, die Herzogtümer nicht voneinander zu trennen.
Das Vorgehen Dänemarks stieß auf den
leidenschaftlichen Protest nicht nur der Deutschen in Schleswig und
Holstein. Wichtiger als die Erregung der Öffentlichkeit war für den
weiteren Verlauf der Krise natürlich die Haltung der Großmächte.
Bismarcks eigentliches Ziel bestand von Anfang an darin, die Herzogtümer
zu annektieren, sie zumindest politisch und wirtschaftlich eng an Preußen
zu binden.
Im Januar 1864 richteten Preußen und
Österreich ein Ultimatum an die dänische Regierung, in dem sie die
Aufhebung der eiderdänischen Verfassung forderten. Dänemark lehnte ab,
da es vergeblich auf englische Hilfe hoffte. In dem nun beginnenden Krieg
stand also Dänemark alleine. Österreichs und Preußens Truppen gewannen
mehr und mehr die Oberhand. Nach der Besetzung Jütlands und der Insel
Alsen sah sich Dänemark gezwungen, um Frieden zu bitten. Es mußte im
Friedensvertrag von Wien (Oktober 1864) endgültig auf die Herzogtümer
Schleswig, Holstein und Lauenburg zugunsten Preußens und Österreichs
verzichten. Vorläufig wurden diese Gebiete durch ein
preußisch-österreichisches Kondominium verwaltet, das von Anfang an die
Gefahr ständiger Konflikte in sich barg.
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Die Absicht Preußens, Schleswig
und Holstein zu annektieren, trat bald immer deutlicher hervor, wodurch
Österreich in eine außerordentlich schwierige Lage geriet. Mit der
»Konvention von Gastein« (1865) gelang es noch einmal, die Spannungen zu
mildern; Österreich regierte in Zukunft Holstein, Preußen in Schleswig;
Lauenburg fiel gegen eine finanzielle Entschädigung an Preußen. Der Sieg über Dänemark hat Preußens
außenpolitisches Prestige zweifellos erheblich gesteigert. Auch die
deutsche Nationalbewegung durfte im Gewinn der Elbherzogtümer einen
bedeutenden Erfolg für die eigenen Ziele sehen.
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Auf der innenpolitischen
Szene trat aber in Preußen noch kein Umschwung ein, obwohl einige
führende Persönlichkeiten der »Fortschrittspartei«, etwa der Demokrat
Franz Waldeck, in einigen Punkten mit dem außenpolitischen Konzept
Bismarcks übereinstimmten, so in dem Ziel, Schleswig und Holstein
Preußen einzugliedern. Manche Liberale wie der Bankier Mevissen und Georg
von Siemens traten aus wirtschaftlichen Überlegungen für die Annexion
dieser Territorien ein. All dies änderte aber nichts an der inneren
Situation Preußens: Der außenpolitische Erfolg der Regierung konnte die
starren Fronten nicht aufweichen.
Der »Deutsche Krieg« von 1866
Trotz des Abkommens von Gastein, in der
deutschen Öffentlichkeit oft als »Kuhhandel« kritisiert, der gerade
Österreich viele Sympathien der Mittelstaaten kostete, blieb die Zukunft
der Elbherzogtümer ein brisantes Problem. Es kam weiter zu ständigen
Streitigkeiten in Schleswig und Holstein, die nach Gastein
wiederauflebten. Um die preußische Neigung zur Annexion der
Elbherzogtümer zu bremsen und das Ansehen des Habsburgerreiches bei den
Mittelstaaten wieder zu heben, begünstigte oder duldete die
österreichische Verwaltung in Holstein erneut die augustenburgische
Propaganda, was Preußen als eine Verletzung des Gasteiner Vertrages
auslegte. Sowohl in Wien als auch in Berlin faßte man Ende Februar 1866
den Entschluß, zwar nicht unmittelbar auf eine militärische Entscheidung
hinzuarbeiten, aber vor dem Gegenspieler nicht mehr zurückzuweichen, auch
wenn dies Krieg bedeutete.
Preußen hatte durch die Heeresreform
seine Armee erheblich verstärkt und modernisiert; aber auch die
österreichischen Truppen stellten trotz aller Mängel im einzelnen noch
immer eine bedeutende, zumindest eine gleichwertige, wenn nicht
überlegene militärische Macht dar. Aus finanziellen, verkehrstechnischen
und geographischen Gründen gestalteten sich jedoch militärische
Maßnahmen wie die Mobilmachung schwieriger als in Preußen, das z. B.
über ein erheblich dichteres Eisenbahnnetz verfügte. Die Donaumonarchie
mußte also mit entsprechenden Vorbereitungen frühzeitig beginnen, was
Preußen als »Beweis« für aggressive Absichten wertete.
Unmittelbar nach der entscheidenden
Sitzung des preußischen Kronrates am 28. 2. 1866 begann Bismarck
diplomatische Maßnahmen zu treffen, um Preußens Situation im Kriegsfall
so günstig wie möglich zu gestalten. Nach dem Mißerfolg in der
dänischen Frage war die Neigung Englands gering, erneut unmittelbar in
kontinentale Fragen einzugreifen. Um die Freundschaft Rußlands hatte sich
Bismarck seit 1863 besonders bemüht.
Bismarck konzentrierte sich bei seinen
Bemühungen vor allem auf Frankreich und Italien. Napoleon III. fühlte
sich sowieso aus innen- und außenpolitischen Gründen gedrängt, bei
größeren Gewichtsverschiebungen innerhalb des »Deutschen Bundes«
mitzuwirken. So schürte er die Spannungen zwischen Preußen und
Österreich, um sie für den Ausbau seiner eigenen Machtstellung zu
nutzen. Ihm schwebte dabei eine vor der Öffentlichkeit eindrucksvolle
Schiedsrichterrolle zwischen Berlin und Wien vor, die er sich unter
Umständen mit territorialen Kompensationen am linken Rheinufer honorieren
lassen wollte.
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Napoleon III
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Der preußische Ministerpräsident
verstand es, Napoleon hinzuhalten, in ihm die Hoffnung auf Mitsprache und
Landzuwachs zu erwecken, ohne aber eine bindende Zusage zu geben. Am 8. 4. 1866 schloß Bismarck ein
Kriegsbündnis mit Italien ab, das sich vom Kampf gegen Österreich den
Gewinn Venetiens erhoffte. Das Abkommen war auf drei Monate befristet,
wobei es der preußischen Regierung überlassen blieb, den Termin des
Kriegsbeginns festzulegen. Österreich drohte so ein Zweifrontenkrieg, der
zu einer Aufsplitterung der Kräfte führen mußte.
Friedensverhandlungen
Bereits einen Tag nach dem Abschluß der
Allianz mit Italien stellte Preußen im »Bundestag« den Antrag, »eine
aus direkten Wahlen und allgemeinem Stimmrecht der ganzen Nation
hervorgehende Versammlung« einzuberufen, womit Bismarck auf das Konzept
des Jahres 1863 zurückgriff. Damals wie jetzt war eine nationale
Volksvertretung für die Donaumonarchie inakzeptabel, aber auch wichtige
Mittelstaaten wie Bayern, Sachsen und Hessen-Darmstadt hegten dagegen
erhebliche Bedenken. Die Liberalen in Preußen ließen sich ebenfalls
nicht beeindrucken und verharrten in Opposition zu Bismarcks Person und
Politik.
Österreichs Gegenaktion bestand darin,
den künftigen Status der Elbherzogtümer der Entscheidung des
»Bundestages« zu unterwerfen, was die preußische Regierung als Bruch
des »Gasteiner Vertrages« bezeichnete, so daß sie Truppen in Holstein
einrücken ließ. In dem nun ausbrechenden Krieg hatte
Preußen nur kleinere norddeutsche Staaten wie Mecklenburg als
Bundesgenossen; wichtige Länder wie Hannover, Sachsen, Bayern,
Württemberg und Baden standen auf der Seite des Kaisers in Wien. Dafür
waren natürlich nicht in erster Linie Erinnerungen an alte
Reichstraditionen verantwortlich, sondern die Furcht vor einer
preußischen Hegemonie und die Möglichkeit eines französischen
Eingreifens in Süddeutschland zugunsten Preußens. Außerdem erwartete
man fast überall einen Sieg der Donaumonarchie.
Während in der öffentlichen Meinung
die Furcht vor einem neuen Siebenjährigen Krieg laut wurde, fiel die
militärische Entscheidung überraschend schnell. Das ausschlaggebende
Ereignis war die Schlacht bei Königgrätz in Böhmen, wo drei preußische
Armeen, die getrennt aufmarschiert waren, zum Kampf gegen die Masse des
österreichischen Heeres zusammengefaßt wurden. Die Schlacht endete mit
einem großen Sieg für Preußen. Gegen Italien blieben Heer und Flotte
der Donaumonarchie zwar siegreich, doch waren diese Erfolge politisch
bedeutungslos, denn die Abtretung Venetiens war ja bereits vertraglich
fixiert.
Friedensverhandlungen
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Der französische Kaiser versuchte, die
ersehnte Funktion des Schiedsrichters zu übernehmen, und verlangte
zeitweilig als Kompensation für die preußischen Erfolge die bayerische
Pfalz und hessische Gebiete links des Rheins. Bismarck mußte sein ganzes
diplomatisches Geschick aufwenden, um derartige Forderungen abzuwehren,
ohne die Regierung in Paris allzu sehr zu verärgern. Um weiteren
Interventionsversuchen einen Riegel vorzuschieben, bemühte sich der
Ministerpräsident, den Krieg rasch zum Abschluß zu bringen; dies wollte
er dadurch erleichtern, daß er von Österreich und seinen süddeutschen
Verbündeten keine Landabtretung verlangte.
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König Wilhelm I. widersprach
dieser Absicht hartnäckig und gab erst nach schweren Auseinandersetzungen
nach, in denen Bismarck vom Kronprinzen Unterstützung erhalten hatte.
Norddeutscher Bund
So wurde bereits am 23. 8. 1866 der
»Friede von Prag« geschlossen. Österreich mußte zustimmen, daß die
deutschen Verhältnisse ohne seine Mitwirkung neu gestaltet wurden. In
Norddeutschland nahm Preußen umfangreiche Annexionen vor: Die Monarchen
von Hannover, Kurhessen und Nassau wurden entthront, ihre Territorien an
Preußen angeschlossen. Damit verfügte dieses über ein
zusammenhängendes Staatsgebiet von Königsberg bis Saarbrücken. Ferner
verzichtete Österreich zugunsten Preußens auf seine Rechte in den
Elbherzogtümern, so daß auch sie dem preußischen Staat angegliedert
werden konnten, ebenso wie die bisherige Freie Stadt Frankfurt.
Fürsten des
Norddeutschen Bundes
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Preußen und die kleineren Staaten
nördlich des Mains schlossen sich zum »Norddeutschen Bund« zusammen. Zusammenarbeit und den Abschluß eines
Bündnisses. Österreichs Vormachtstellung in
Mitteleuropa gebrochen. Der »Vertrag von Prag« schloß eine
»nationale Verbindung« des Norddeutschen Bundes mit den süddeutschen
Staaten nicht aus, doch sollte dabei deren »international unabhängige
Existenz« nicht angetastet werden. Bismarck erkannte die »Mainlinie«
als Grenze für den preußischen Einfluß vor allem mit
Rücksicht auf Frankreich an; im geheimen wurde allerdings diese Linie
schon im Spätsommer 1866 überschritten.
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Es wurden »Schutz- und
Trutzbündnisse« zwischen Preußen und den vier süddeutschen Staaten
geschlossen,
die sich von den französischen Gebietsforderungen bedroht fühlten. In
diesen Abkommen garantierten sich die Vertragspartner die Integrität
ihrer Staatsgebiete und versprachen, einander im Kriegsfalle mit ihrer
vollen Streitmacht zu unterstützen. Die Bündnisse zogen eine Neuordnung
der süddeutschen Heere preußischem Muster gemäß nach sich.
In Norddeutschland hatte Preußen eine
starke Vorherrschaft errungen. Sie fand auch ihren Niederschlag in der am
1. 7. 1867 in Kraft getretenen Verfassung des neugeschaffenen
»Norddeutschen Bundes«, an deren Ausarbeitung Bismarck wesentlichen
Anteil hatte.
Unter dem Eindruck der kriegerischen
Auseinandersetzung mit Österreich kam es in der preußischen Innenpolitik
zu einem Stimmungsumschwung. Bei Neuwahlen zum Landtag gewannen die
Konservativen mehr als 100 Sitze hinzu; einen Zuwachs an Mandaten konnten
auch die Altliberalen verzeichnen, so daß die »Fortschrittspartei« ihre
Mehrheit einbüßte. Bismarck drängte nun darauf, den Konflikt mit dem
Parlament beizulegen, und brachte deshalb die »Indemnitätsvorlage« ein,
in der die Regierung um nachträgliche Billigung der Staatsausgaben und
Entlastung für die Haushaltsführung der letzten Jahre bat. Damit wurde
de facto das Budgetrecht der Volksversammlung anerkannt. Bismarck bekannte
sich hier zum Konstitutionalismus, anders als zahlreiche Hochkonservative.
Gerlach
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Innerhalb der »Fortschrittspartei«
löste der Schritt der Regierung eine lebhafte Diskussion aus. Manche
Abgeordnete, unter ihnen der berühmte Mediziner Virchow, lehnten ihn aus
prinzipiellen Überlegungen ab; sie scheuten das Odium, sich vom Sieger
»korrumpieren« zu lassen und einem Verfassungsbruch
gleichsam nachträglich zuzustimmen. Eine andere Gruppe hingegen
fürchtete, bei weiterem Verharren in bedingungsloser Opposition jeden
Einfluß auf den Gang der Politik zu verlieren.
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Virchow
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Auch auf seiten der Konservativen
zeichneten sich einschneidende Veränderungen ab. Viele von ihnen, an der
Spitze Ludwig von Gerlach, machten aus ihrer Abneigung gegen Bismarcks
antiösterreichische Politik kein Hehl. Schließlich nahm der Landtag mit
großer Mehrheit die »Indemnitätsvorlage« an, womit der
Verfassungskonflikt beendet war. Das Problem einer Beschränkung der
königlichen Kommandogewalt wurde nicht mehr aufgegriffen, die
Heeresreform galt als vollendete Tatsache. Das Jahr 1866 hat somit nicht
nur die Machtverhältnisse in Mitteleuropa verändert, sondern auch zu einer
tiefgreifenden Wandlung der preußischen Innenpolitik und der Parteien
geführt.
Um der Einigungsbewegung neue Impulse zu
verleihen, griff Bismarck auf den Gedanken zurück, ein Parlament des
Zollvereins zu schaffen, dem ja die süddeutschen Staaten angehörten. Die
Wahlen fanden im Februar und März 1868 statt, und zwar nur im Süden, da
den Norden die schon gewählten Mitglieder des »Norddeutschen
Reichstages« repräsentierten. Die Abstimmung wurde nach dem allgemeinen
und gleichen Wahlrecht durchgeführt - entsprechend dem Modus des
»Norddeutschen Bundes«. Das Ergebnis brachte für die Anhänger eines
kleindeutschen Reiches eine herbe Enttäuschung: Der Süden entsandte 91
Abgeordnete in das Parlament des Zollvereins, von denen lediglich 26
kleindeutsch gesinnt waren.
Krieg mit Frankreich
Spanien trat an den Erbprinzen Leopold
aus der katholischen Linie Hohenzollern-Sigmaringen heran, für den
spanischen Thron zu kanidieren, der 1868 durch den Sturz der Königin
Isabella vakant geworden war. Bereits 1869 war deswegen der spanische
Marschall Prim an die Familie HohenzollernSigmaringen herangetreten. Im
Februar 1870 informierte Prim offiziell den preußischen König als das
Oberhaupt der gesamten Dynastie der Hohenzollern. Bismarck bemühte sich
nachdrücklich darum, Leopold zur Annahme der Kandidatur und König
Wilhelm I. zu deren Genehmigung zu bewegen. Er versprach sich davon
politische und wirtschaftliche Vorteile für Preußen und eine
Verbesserung der außenpolitischen Situation des »Norddeutschen Bundes«.
Als die Kandidatur in Paris bekannt
wurde, schlug die dortige Regierung sofort einen harten Kurs ein. Es ging
ihr von Anfang an nicht nur darum, die Königswahl Leopolds zu verhindern,
sondern ihr wichtigstes Bestreben war es, Preußen eine politische
Demütigung zuzufügen.
König Wilhelm I. und der
französische Botschafter Benedetti in Bad Ems
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Unter dem Eindruck der Proteste Frankreichs zog
schließlich Leopold seine Zusage an Spanien zurück. Die französische
Politik hatte insofern einen sichtbaren diplomatischen Erfolg zu
verzeichnen, wollte sich aber damit noch nicht zufriedengeben, sondern
verlangte zusätzlich vom preußischen König die ausdrückliche Garantie,
in Zukunft diese Kandidatur nicht mehr zu genehmigen. Wilhelm I., der sich
zur Kur in Bad Ems aufhielt, lehnte diese
neue Forderung ab und ließ dem französischen Botschafter mitteilen, er
habe ihm »nichts weiter zu sagen«. Das Telegramm, das diesen Vorfall
schilderte (die berühmte »Emser Depesche«), kürzte Bismarck so, daß
die Abweisung des französischen Verlangens noch schärfer hervortrat.
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Am
19. 7. 1870 erklärte Frankreich den Krieg an Preußen, denn Napoleon
wollte auch den geringsten Anschein eines Zurückweichens vermeiden, da er
um seine ohnehin schon recht prekäre innenpolitische Position fürchtete.
Soweit erkennbar, hat allerdings nicht erst die »Emser Depesche« die
französische Regierung veranlaßt, zu den Waffen zu greifen, sondern ihr
Entschluß zum Kriege stand für den Fall fest, daß König Wilhelm I. die
gewünschte Erklärung verweigerte. Keine Seite hat den bewaffneten
Konflikt langfristig vorbereitet; beide Kontrahenten wichen ihm aber auch
nicht aus, da es galt, das Prestige einer Großmacht zu wahren. Die
Forderung Frankreichs nach einer zusätzlichen Garantie isolierte das Land
politisch, da die europäische Öffentlichkeit und die Regierungen dafür
kein Verständnis aufbrachten. Der Kampf war von Anfang an ein
Nationalkrieg, an dem sich auch die vier Südstaaten beteiligten, da sie,
unterstützt von der Mehrheit der öffentlichen Meinung, den Bündnisfall
als gegeben betrachteten. Die herausragende militärische Persönlichkeit
war wieder Moltke; der Aufmarsch der deutschen Armeen vollzog sich rascher
als auf seiten des Gegners, was die Erfolge in den ersten Grenzschlachten
erklärt. Ein wichtiges militärisches und politisches Ereignis stellte
die Kapitulation Sedans am 2. 9. 1870 dar, bei der auch Napoleon III. in
Gefangenschaft geriet; ihm wies man Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel als
Aufenthaltsort zu. In Paris wurde jetzt die Republik ausgerufen. Bismarck
bemühte sich nun um ein baldiges Ende des Krieges, da er mit
Interventionen von englischer und russischer Seite rechnen mußte, doch
die von der neuen französischen Regierung ausgehobenen Heere leisteten
erbitterten Widerstand. Den Friedensschluß hat gewiß die deutsche
Absicht erschwert, Elsaß-Lothringen dem neu entstehenden Reich
anzugliedern.
Gefangener Napoleon III.
und Bismarck
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Schließlich konnte am 26. 2. 1871 mit der republikanischen
Regierung der »Vorfriede von Versailles« abgeschlossen werden, welchem
der definitive »Friede von Frankfurt« am 10. 5. 1871 folgte. Frankreich
verpflichtete sich, eine Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Franc zu
entrichten, und mußte das Elsaß sowie Teile Lothringens mit der Festung
Metz abtreten. Diese Eroberung bedeutete außenpolitisch eine schwere
Hypothek für das Deutsche Reich und brachte auch innenpolitische
Belastungen mit sich.
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Einzug deutscher Truppen
in Paris
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Die Gründung des Deutschen Reiches
Während der Krieg noch andauerte, trat
am 1. 1. 1871 die modifizierte Konstitution des »Norddeutschen Bundes«
auch für Hessen-Darmstadt, Baden, Württemberg und Bayern (hier am 1. 2.)
in Kraft. Langwierige Verhandlungen waren mit diesen Staaten
vorausgegangen, um sie zum Eintritt in den Bund zu bewegen. Der Kanzler
bemühte sich, die süddeutschen Regierungen durch Entgegenkommen zu
gewinnen, wenn er auch am Fundament der Verfassung des »Norddeutschen
Bundes« unbeirrt festhielt.
Schließlich konnten im November 1870 die
entsprechenden Verträge mit den vier Staaten abgeschlossen werden.
Die Spitze des »Norddeutschen Bundes« hatte lediglich
die Bezeichnung »Bundespräsidium« getragen; Bismarck setzte sich dafür
ein, sie durch den Titel »Kaiser« zu ersetzen, um so der
Nationalbewegung entgegenzukommen. Nachdem schließlich Ludwig II. als
wichtigster Bundesfürst in einem Brief Wilhelm I. die Kaiserwürde
angetragen hatte, beschloß der »Norddeutsche Reichstag« am 10. 12.
1870, den Bund in »Reich« umzubenennen und das Bundespräsidium mit dem
Kaisertitel auszustatten, der an eine alte Tradition anknüpfte. Den
Schlußpunkt bildete die bekannte Zeremonie am 18. 1. 1871 im Spiegelsaal
von Versailles, bei der Bismarck eine Proklamation Wilhelms verlas, in der
dieser bekanntgab, er sei dem »Rufe der verbündeten deutschen Fürsten
und Städte« gefolgt und habe die »Deutsche Kaiserwürde« angenommen.
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Kaiserproklamation
in Versailles
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Preußen im Reich
Nach der Reichsgründung und dem
Aufbau der neuen Institutionen konnte man auch auf altpreußischer Seite
Bilanz ziehen und sich die Frage vorlegen, ob Preußens Interessen
ausreichend gesichert worden waren. Auch war zu fragen, ob Wilhelm I. in
seinem vorangerückten Alter den kaiserlichen und den königlichen
Aufgaben gewachsen sein würde, ob es nicht überhaupt sinnvoller
gewesen wäre, einer anderen Linie des Hauses Hohenzollern Preußen zu
belassen. Äußerlich mochte es scheinen, als wäre Preußen »im
Reich« gut aufgehoben, dem es als Unterbau und Lastträger bei der
Wahrung gesamtstaatlicher Interessen und auch Modernisierungen zu dienen
hatte. Doch die eigentümliche dialektische Konsequenz von Bevorzugung
und Bindung bestand darin, daß eine genuin preußische Führung weithin
fehlte und der Staat als eine riesige Verwaltungskörperschaft dem
politisch stagnierenden Reich keine entscheidenden Impulse zu geben
vermochte.
Außenpolitisch war eine Wesentliche
Verschlechterung der Lage gegenüber dem Stand von 1863 eingetreten. Die
Beziehungen zu Frankreich blieben nach der Übernahme von
Elsaß-Lothringen auf die Dauer gestört. Es war klassische
Kabinettspolitjk gewesen, mit der Bismarck die territorialen Gewinne
1866 und 1871 durchgesetzt hatte. »Revolutionär« wäre es gewesen, in
Schleswig-Holstein und im Königreich Hannover über die Verbindung mit
Preußen abstimmen zu lassen. Es machte einen gewichtigen
Unterschied aus, daß die bisherigen Untertanen Preußens polnischer
Nationalität nunmehr auch Einwohner des Reiches geworden waren.
Verwaltung
Die Reform der Provinzial- und Kreisverwaltung bald
nach der Reichsgründung beruhte politisch auf dem Bündnis Bismarcks
mit den Nationalliberalen. Unter dem Innenminister Graf Friedrich von
Eulenburg entstand vor allem die neue Kreisordnung für die sechs
östlichen Provinzen (13. Dezember 1872). Einerseits wurde die
Polizeigewalt der Gutsherren und der alten Erbschulzen (Lehnschulzen)
aufgehoben, andererseits erhielten die Landkreise Aufgaben übertragen,
die bis dahin den Regierungspräsidenten zukamen. Das Landratsamt blieb
auch weiterhin trotz seines staatlichen Charakters eine Art von Reservat
der eingesessenen Grundbesitzer in den Landkreisen. Aber das juristische
Studium als Voraussetzung galt nunmehr als unumgänglich. Der
Karrierebeamte des höheren Dienstes begann nunmehr fast regelmäßig
seine Erfahrungen in einem abgelegenen Kreisamt zu sammeln, so daß ein
Basiskontakt gegeben war, der nicht selten lebenslang günstig auf die
Arbeit des Betreffenden eingewirkt hat. Im Kreistag wurde der Einfluß
der Gutsbesitzer ebenfalls vermindert (zwanzig bis dreißig Prozent der
Sitze). Außerdem wurden zwischen den Ebenen der Kreise und der
Ortsgemeinden Amtsbezirke eingerichtet, die jeweils eine Gruppe
von Gemeinden umfaßten (6000—8000 Einwohner). Die neue Kreisordnung konnte im Herrenhaus, der
Ersten Kammer, nur durchgebracht werden, nachdem Wilhelm I. mit einem »Pairs-Schub«
(25 neue Mitglieder) eine Mehrheit der zur Reform bereiten Kräfte
geschaffen hatte. Die anschließende Provinzialordnung (29. Juni
1875) ließ — in letzter Fortbildung der altständischen Verbände —
Provinzialverbände als Selbstverwaltungskörperschaften neben den
staatlichen Provinzialverwaltungen entstehen.
Reichstagssitzung
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Der »Kulturkampf«, den Bismarck unmittelbar nach
Kriegsende in Preußen und in einigen anderen Bundesstaaten gegen die
Katholische Kirche führen ließ, war durch die Beschlüsse des
Vatikanischen Konzils (18. Juli 1870, Unfehlbarkeitsdogma) ausgelöst
worden. Die Römische Kirche entzog einigen von der
offiziellen Lehre abweichenden Theologieprofessoren, Militärgeistlichen
und Lehrern die Lehrbefugnis und forderte deren Entfernung aus den
Staatsämtern. Da Preußen als paritätischer Staat alle Religionen
verfassungsmäßig duldete, mußte das Verlangen Roms zurückgewiesen
werden.
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Kulturkampf
Es erwies sich aber als ein Fehler und als ein Ausbrechen aus
der überlieferten Politik aktiver Toleranz, daß unmittelbar danach
Repressalien gegen diejenigen katholischen Oberbehörden angewendet
wurden, die im Einklang mit der Kurie die Ämterentziehung gewünscht
hatten. So wurden dem Bischof von Ermland in Ostpreußen die
Staatszuwendungen gesperrt oder etwa der Armee-Feldprobst außer
Funktion gesetzt. Im Grunde hatte Bismarck mit der Zustimmung zu diesen
übereilten Maßnahmen bereits die klassische preußische Position
verlassen. Bei Hofe war der Kulturkampf im übrigen recht unbeliebt. Die Kaiserin Augusta, auch hier in dieser Phase trotz ihrer
liberalen
Sympathien weitsichtiger, mißbilligte die Aggressivität Bismarcks und
seiner Minister wiederholt. Der König schwankte in seinem Urteil
dementsprechend. Es ist nicht zu übersehen, daß in einigen Punkten,
wie der Beseitigung der geistlichen Schulaufsicht, die zu einer
lästigen Gesinnungsschnüffelei ausarten konnte, oder mit der Zivilehe
(durch die die unchristliche Mischehenpraxis der Kirchen wenigstens
äußerlich entschärft wurde), zweckmäßigere und zeitentsprechendere
Regelungen gefunden worden sind. Aber die Bündelung der Gesetze brachte
die Schärfe. Bismarck erschien vielen als Vertreter einer
liberal-staatlich kaschierten Intoleranz und Weltfremdheit. Die Grenzen
seiner Kräfte wurden erkennbar. Daß die preußischen Konservativen ihn
bei seinem konfessionspolitischen Kahlschlag nicht zu unterstützen
vermochten, ist nicht nur verständlich, sondern war im Interesse des
inneren Friedens geboten. Die weiteren Maßnahmen bis 1875 trugen
Repressionscharakter und schädigten das Ansehen Preußens. 1876 hatten
es König und Staatsregierung dahin gebracht, daß sämtliche Bischöfe
Preußens ausgewiesen (Expatriierungsgesetz, 1874) oder vorläufig
Festungen als Wohnsitz zugewiesen erhalten hatten. Sechshundert
Pfarreien waren unbesetzt. Der Widerstand der Katholischen Kirche
innerhalb und außerhalb Preußens war nicht zu brechen.
Seit 1878 hat Bismarck zusammen mit Rom (Leo XIII.)
den Kulturkampf so weit wie möglich beendet, nachdem die Kurie unter
dem Eindruck des französischen Kulturkampfes ihre
Gesprächsbereitschaft bekundet und Bismarck in den Sozialisten einen
neuen, weit gefährlicheren Gegner ausgemacht hatte. Mit den
»Milderungsgesetzen« (1882/83, 1888) und dem »Friedensgesetz«
(1885/87) wurde der Kulturkampf beendet, nachdem Bismarck sich mit
Erfolg der Kurie gegen die Zentrumspartei bedient hatte.
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Papst Leo XIII
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Dem
»Verteidigungssieg der Kirche« (Georg Franz) stand der zweifelhafte
Ertrag einer Stabilisierung der Staatsaufsicht gegenüber. Schwerer wog
die Schwächung der nationalen Verbundenheit, die zusätzliche
Verschärfung der nationalpolnischen Politik in Teilen der preußischen
Ostprovinzen, die emotionale Belastung der Staatsposition im Rheinland,
in Westfalen und in Teilen der Provinz Hannover, wo sich Altwelfen und
Zentrum in ihrer Gegnerschaft gegen die Unberechenbarkeiten der
Hohenzollernmonarchie vereinigt hatten. Überhaupt gewann
der Preußenhaß, der nach 1866 kaum zur Ruhe gekommen war, neue
Argumentationsmöglichkeiten.
Sozialisten und Sozialpolitik
Der Kampf gegen die Sozialdemokratie griff
noch weiter in die allgemeine deutsche Politik Bismarcks aus. Die
Revolutionssorge saß dem Altgewordenen wie vielen seiner Generation im
Nacken. Das Reichsgesetz »gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen
der Sozialdemokratie« (18. Oktober 1878, bis 1890 verlängert) war ein
Repressionsgesetz, das jedoch der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands auch in Preußen weit mehr Möglichkeiten der Betätigung
offenließ, als dies bei den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts
gegenüber oppositionellen Strömungen der Fall ist. Wesentlich war für die Folgezeit, daß in der
Fortführung älterer Anregungen seit 1880 eine aktive Sozialpolitik
(Kaiser-Botschaft, 17. November 1881) begonnen wurde, die neben der
Arbeiterschutzpolitik zur Einrichtung der Krankenversicherung (1883),
der Unfallversicherung (1884), der Alters- und Invalidenversicherung
(1889) führte. Dem schlossen sich noch die Einführung der Sonntagsruhe
und der Lohnschutz (1891), der Kinderschutz im Arbeitsleben (1903/04) und andere begleitende Maßnahmen an.
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Polenfrage
Die Polenfrage war für Bismarck eine Frage
des preußischen, später des deutschen Staatsinteresses. Nur in diesem
Rahmen war er bereit, mit polnischen Abgeordneten über Rechte und
Sonderrechte zu verhandeln. Die ruhige, teilweise schwerfällige deutsche Bevölkerung der
preußischen Mittel- und Ostprovinzen wurden stellenweise unruhig, als
sich die Angst vor einer Überfremdung ausbreitete. Polnische Ansprüche
auf ausschließlich deutsch besiedelte Gebiete, wie sie vor und
besonders nach 1918 mit Hilfe auch von polonisierten Landkarten
geäußert wurden, waren wenig hilfreich. In der Provinz Posen wurden 1873 die Bauernvereine
zusammengefaßt, 1886 polnische Genossenschaftsbanken gegründet. Der
preußische Staat ließ dies alles und anderes geschehen. Polnische und
Zentrums-Abgeordnete vertraten im Reichstag und im preußischen
Abgeordnetenhaus mit Schärfe die polnisch-katholischen, auch die
besonderen ostpreußisch-ermländischen Interessen. Der Kulturkampf
hatte weitere Entfremdungen zur Folge. Ein Großteil der polnischen
Bauern wurde für die nationalpolnische Bewegung nun erst ansprechbar.
Mit den Mitteln der 1886 gegründeten preußischen Ansiedlungskommission,
die nicht ohne Erfolg arbeitete, waren die Probleme jedoch nicht
grundsätzlich lösbar.
Für die preußischen Konservativen, die noch
um 1860 von dem »Nationalitätenschwindel« nichts hören wollten,
besaß das Polenproblem vor allem eine agrarpolitische Seite. Die
polnischen Saison-Arbeiter mit ihrer Ausdauer und Genügsamkeit
verhalfen den ost- und mitteldeutschen Großbetrieben zur Rentabilität.
Andererseits ergaben sich hier wie durch das Militär Veränderungen,
sodaß die Zahl derjenigen, die sich trotz polnischer Abstammung und
katholischer Konfession als zweisprachige »preußische« Staatsbürger
empfanden, bis 1914 im Steigen begriffen war. Unbestreitbar ist auch,
daß der preußische Staat besonders in der Zeit von 1871 bis 1918 in
Posen und Westpreußen unbeschadet der jeweiligen
Bevölkerungszusammensetzung eine große infrastrukturelle Aufbau- und
Ausbau-Arbeit geleistet hat, mit einem modernen Verkehrsnetz die Ertragskraft des Landes um ein
Mehrfaches angehoben hat.
Die Landverteilung in den östlichen und mittleren
Provinzen hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiter
und rascher als bisher zugunsten des bürgerlichen und adligen
Großgrundbesitzes verändert. Neben der generellen Anhebung der
Betriebsgrößen ist ein Konzentrationsprozeß im Umkreis weniger
Familien zu beobachten, wobei Erbschaften und Zukäufe, z. T. mit
industriellem Kapital, eine Rolle spielten. Obschon sich diese Vorgänge
fast überall in Mitteleuropa beobachten ließen, erregten sie doch in
Preußen vor dem Hintergrund der sozialen Nöte der frühen und
mittleren lndustrialisierungsphase starke Emotionen.
Es kam hinzu, daß
auf den großen Betrieben durch die Einführung neuer
Wirtschaftsmethoden in erheblichem Maße Arbeitskräfte freigesetzt
wurden, die sich aus nackter Existenznot heraus den aufstrebenden
gewerblichen Ballungszentren des Westens zuwandten oder ihr Heil in
einer Auswanderung nach Übersee suchten.
Nach dem Tod Wilhelm I. am 9. März
1888 und des Kehlkopfkrebskranken Friedrich I: (III.) am 15. Juni 1888
wurde in diesem sogenannten Drei-Kaiser- Jahr der erst 28jährige
Wilhelm II. Preußischer König und Deutscher Kaiser.
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Kaiser Friedrich III.
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