Berlin |
Die Reichshaupt- und KaiserstadtNach der Reichseinigung von Versailles am 18.01.1871 wurde Berlin über Nacht Reichshauptstadt und der preußische König deutscher Kaiser. Die Wilhelmstraße wurde der Sitz der Reichsregierung, vor allem des nur dem Kaiser verantwortlichen Reichskanzlers, der immer zugleich preußischer Außenminister und fast immer preußischer Ministerpräsident war. In den Reichsämtern und Ministerien der Wilhelmstraße wurde die Innen- und Außenpolitik des Reiches wie Preußens bestimmt. Hier lag die Schaltzentrale für deutsche und europäische Politik. Am Tiergarten und am Pariser Platz residierten die Vertreter der deutschen und ausländischen Staaten. Der Reichstag, oberste Legislative‚ verkörperte den einheitlichen Nationalstaat am deutlichsten. Er erhielt ein provisorisches Domizil, zunächst im früheren Hardenbergscben Palais am Dönhoffplatz, dann in der Leipziger Straße 4. Erst 1894 konnte das neu errichtete Reichstagsgebäude (Architekt Paul Wallot) am Tiergarten bezogen werden. Im Regierungsviertel, bisher mit Adelspalästen bebaut, hatten August Borsig an der Wilhelmstraße/Ecke Voßstraße und Bethel Henry Strousberg an der Wilhelmstraße/Ecke Pariser Platz ihre Paläste errichtet.
Und weiterhin das Polizeipräsidium, die faktisch als Bezirksregierung Bauwesen, Finanzen und Steuern, Verkehr und Gewerbe beherrschten. Der Oberbürgermeister, der ein Volljurist sein mußte, bedurfte der Bestätigung durch den preußischen König. Die preußische Staatsbürokratie herrschte über die Stadtorgane und verhinderte Bestrebungen des Oberbürgermeisters Arthur Hobrecht, eine selbständige Provinz Berlin im preußischen Staatsverband zu schaffen. Die preußische Provinzialordnung von 1875 schrieb allerdings die Bildung eines Stadtkreises Berlin vor, die 1883 erfolgte. Das Landesverwaltungsgesetz von 1883 besagte, daß Berlin nicht mehr zur Provinz Brandenburg gehöre; gleichzeitig wurde aber bestimmt, daß der Oberpräsident der Provinz auch Oberpräsident von Berlin zu sein habe. Der Ausbau der Stadt als politisches Zentrum des Reiches vollzog sich nur sehr allmählich. Die Bildung des Nationalstaates und Berlins Rolle als Hauptstadt begünstigten außerordentlich die rasche und durchgreifende ökonomische Entwicklung der Stadt. Ein bedeutender Teil der fünf Milliarden Francs französischer Kriegskontributionen floß in Berlins Tresore. Der Berliner Bankier Gerson Bleichröder war maßgeblich an der Leitung des Goldstroms beteiligt. Berlin, seit langem ein bedeutender Platz der Industrie und des Finanzwesens, des Handels und Verkehrs, wuchs in wenigen Jahren zum nationalen deutschen Wirtschaftszentrum von internationalem Rang heran. 1876 nahm hier der Zentralverband Deutscher Industrieller seinen Sitz. Die »Gründerjahre« von 1871 bis 1873, erfaßte die gesamte Berliner Wirtschaft. Zum Zentrum des deutschen Kapital-, Kredit- und Wertpapiermarktes entwickelte sich die Berliner Börse, jetzt vor den ehemals führenden Börsen in Frankfurt (Main), Leipzig oder Hamburg und nach London und New York bedeutendster Umschlagplatz des internationalen Kapitals. Die führenden Berliner Banken, so die Preußische Bank (seit 1876 Reichsbank), die Disconto-Gesellschaft, die 1870 gegründete Deutsche Bank, die Berliner Handelsgesellschaft sowie einige Privatbanken, wie besonders die Bleichröders, steigerten ihre Kapitalkraft und ihren Einfluß enorm. Die Dresdner Bank eröffnete noch 1872 eine Filiale in Berlin, ihr folgte bald die Darmstädter Bank für Handel und Industrie. Die Filialen entwickelten sich schließlich zu Zentralen dieser Banken. Mit aktiver Beteiligung der Banken wurden viele Industriebetriebe in Aktiengesellschaften umgewandelt, reorganisiert und erweitert; neue Großbetriebe entstanden als kapitalstarke Unternehmen. 1871/1872 wurden in Berlin 228 neue Aktiengesellschaften mit einem Grundkapital von 603 Millionen Mark in das Handelsregister eingetragen.
Im Berliner Borsigwerk (Chausseestraße 1) wurde 1873 die 3000. Lokomotive gebaut. Ausdruck des breiten Übergangs zum Fabrikbetrieb war die Zahl der Dampfmaschinen, von denen es 1875 in Berlin 1055 mit etwa 15000 PS gab (1861 waren es 357 Maschinen mit etwa 5000 PS), davon in der Metallwaren- und Maschinenbaubranche. Der Maschinenbau bildete das Rückgrat der Berliner Industrie. Als »moderner« Zweig entwickelte sich die Elektroindustrie mit dem Siemens-Unternehmen. Anfang der achtziger Jahre legte Emil Rathenau den Grundstein zum zweiten Elektrogroßbetrieb, der späteren AEG. Diese »modernen« Industrien vergrößerten sich vor allem in ihrem elektrotechnischen Zweig bedeutend. Die Siemens-Werke eröffneten 1883 in Charlottenburg ein neues Werk für Kraftmaschinen; bald lag hier die gesamte Starkstromproduktion, während in Mitte in der Markgrafenstraße der Apparatebau verblieb. 1883 gründeten Emil Rathenau und Werner von Siemens die Deutsche Edison-Gesellschaft zunächst in der Chausseestraße 113, die nach wenigen Jahren in die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft (seit 1887) umgebildet und mit ihren Betrieben in der Schlegel-, dann in der Weddinger Acker- und in der Brunnenstraße zum führenden Großbetrieb der Starkstromindustrie wurde. Berlin wurde zum die deutsche Elektroindustrie beherrschenden Zentrum, was sich in Niederlassungen und Exporten in internationalen Dimensionen ausdrückte. Mit der Errichtung der ersten Elektrizitätswerke 1883 in der Markgrafen- und Mauerstraße (Mitte) kündigte sich für die nächsten Jahrzehnte eine Umwälzung für Wirtschaft und Verkehr, für die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Menschen überhaupt an. Auch die Chemieindustrie (1867—1872 Actiengesellschaft für Anilinfabrikation Agfa, 1871 Chemische Fabrik auf Actien, vorm. E. Schering mit 1,5 Millionen Mark Grundkapital) gewann an Bedeutung. Der konjunkturelle Aufschwung erfaßte auch das Baugewerbe, die Kleinbetriebe und das Handwerk, die noch wesentlich traditionell produzierten. Lediglich in der Textilindustrie (Garn- und Gewebeproduktion) setzte sich der Rückgang hinsichtlich der Zahl der Beschäftigten und der Maschinen fort. Die Konfektionsindustrie in Berlin — kleine Handwerksbetriebe, dezentralisierte und zentralisierte Manufakturen, die zum Fabrikbetrieb übergingen — nahm einen Aufschwung, der zur vorherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt und zu festen Positionen im Export führte. Seinen Rang als bedeutendster Standort der Druckerei- und Buchbindereiindustrie, als Verlagsort für Bücher, Zeitschriften und Zeitungen festigte Berlin mit dem Ausbau der Preußischen Staatsdruckerei zur Reichsdruckerei (1879), den Buchfertigungsfabriken Lüderitz & Bauer und A. Ludwig. Für die Ansprüche kapitalistischer Massenbeeinflussung wurden das Wolffsche Telegraphenbüro (seit 1849), die Verlage von Rudolf Mosse (1867), Ludwig Ullstein (1877), August Scherl (1883) ausgebaut und wirksam. 1886 gründete Samuel Fischer seinen Verlag. 1867 erschienen in Berlin 165 Zeitungen und Zeitschriften, 1879 waren es bereits 354, und 1895 kamen 834 Publikationsorgane heraus.
Systematisch wurden die Grundstücke von 70 bis 80 Meter Tiefe 2- bis 5fach mit Hinterhäusern überbaut, so daß die Mehrzahl der Wohnungen — überwiegend nur Stube und Küche, zuweilen mit Kammer — auf den Höfen lag: fast ohne Licht und Luft. Ein besonders abschreckendes Monstrum war Meyers Hof in der Ackerstraße 132/133 mit 7 Quergebäuden. Auf engstem Raum, in Hinterhäusern, Hof-, Quer- und Seitengebäuden, lebten die Menschen zusammengepfercht. Jede zehnte Berliner Wohnung war eine Kellerwohnung, und jeder zehnte Berliner hauste in einer solchen. Die Hälfte aller Wohnungen hatte nur ein heizbares Zimmer, und jede dieser Einzimmerwohnungen wurde durchschnittlich von vier Menschen bewohnt. Im Laufe der siebzjger Jahre leitete der Magistrat unter dem Druck der Verhältnisse in der Stadtverordnetenversammlung den Bau der Kanalisation ein, die die Abwässer auf Rieselfelder am Stadtrand führte. Jetzt wurde es möglich, Wasserleitung und WC in die Häuser zu bringen, zunächst nur für jedes Stockwerk, meistens für mehrere Familien gemeinsam. Das bedeutete trotzdem eine außerordentliche Verbesserung der hygienischen Verhältnisse für die Stadt und ihre Bewohner. So wuchs Berlin in den siebziger Jahren zu einer Millionenstadt. Für die Versorgung der rapide wachsenden Bevölkerung der Stadt wie auch der Vororte arbeiteten zunehmend Betriebe der Nahrungs- und Genußmittelindustrie; mehrere Dampfmühlen machten die ländlichen Mühlen überflüssig und ließen Berlin auch zum Mittelpunkt des Mehlgroßhandels werden. Ab 1883 arbeitete der Schlachthof am neu errichteten Zentralviehhof. Die Milchversorgung blieb bis Ende des Jahrhunderts unzureichend. Carl Bolle betrieb ab 1879 eine Molkerei; sein Betrieb in Moabit war 1886 der modernste Europas, er belieferte mit Milchwagen die Haushalte. Die Margarineproduktion wurde aufgenommen. Die Zigarettenindustrie erweiterte sich mit Josetti (Rungestraße) und Garbaty (Pankow). Luxusgüter, Schokolade, Kaffee, Delikatessen wurden produziert und in Spezialgeschäften und Filialen angeboten. Firmen wie Stiller, Tack, Leiser und Salamander fertigten maschinell Schuhe. Das Textilgewerbe florierte in seinen Zentren um den Hausvogteiplatz, am Neuen Markt, zwischen Oranienburger und Schönhauser Tor. Großbetriebe mit Hunderten Zwischenmeistern, Tausenden Heimarbeiterinnen produzierten für den Bedarf der Großstadt und für den wachsenden Export. Schneider-, Sattler- und Schuhmacherwerkstätten und zahllose Effektenfabriken arbeiteten für Luxus- und Militärbedarf.
Die Entwicklung der Industrie war eng verknüpft mit ihrer »Randwanderung«, der weiteren Verlagerung von Betrieben nach außerhalb, wo billiger Boden und Ausdehnungsmöglichkeiten und mobile Arbeitskräfte vorhanden sowie geringere Steuern zu zahlen waren. Die metallverarbeitende Industrie breitete sich östlich der Stadtgrenze in Lichtenberg aus (so Knorr-Bremse, Landmaschinenfabrik Eckert), in Ober- und Niederschöneweide (die Deutschen Messingwerke, später auch die AEG), in Treptow und Rummelsburg, hier produzierte auch die chemische Industrie mit der Agfa. Carl Spindler verlegte seine Chemische Reinigung, Färberei und Waschanstalt in den siebziger Jahren in die Köllnische Vorstadt von Köpenick, dann Spindlersfeld genannt. Um die Stammarbeiter an die Firma zu binden, entstanden hier zugleich Wohnungen und erstmals größere soziale, kulturelle und sportliche Einrichtungen. In Reinickendorf fanden neue Fabriken ihren Standort. Weit vor die Tore der Stadt zog die Schwerindustrie: In Spandau wurden die Militärwerkstätten durch die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken erweitert. Orenstein & Koppel gründeten hier 1896 eine Lokomotiv- und Waggonbaufabrik, wenig später in Drewitz eine Kesselschmiedeanlage. Borsig zog 1894 von Moabit nach Tegel und errichtete neben den Fabriken Wohnsiedlungen, Borsigwalde entstand. Die Berliner Maschinenbau-AG (vorm. L. Schwartzkopfl) baute ab 1897 in Wildau eine neue Lokomotivfabrik. Siemens baute ab 1899 bei Spandau und erwarb nördlich von Charlottenburg Bauland. Die AEG errichtete 1898 ihr Kabelwerk in Oberschöneweide und plante Fabriken in Hennigsdorf. Die zweite Gründerära führte zu einem neuerlichen Wohnungsbauboom, charakterisiert durch eng bebaute und übervölkerte Straßenzüge mit Hinterhöfen, Quergebäuden und Seitenflügeln, mit kleinen Werkstätten, Fabriken, Buden und Schuppen im Norden, Süden und Osten der Stadt. Neue Arbeiterwohnviertel mit jetzt durchweg 5stöckigen Massenmietshäusern entstanden in der Rosenthaler Vorstadt, im Königs- und Stralauer Viertel, im Wedding und in Moabit. Dicht besiedelte Arbeiterquartiere, den Berliner Verhältnissen ähnlich, prägten auch die Vororte Lichtenberg, Rixdorf Neu-Weißensee, Rummelsburg sowie Teile Treptows, Schönebergs und Charlottenburgs. Die Hausgrundrisse waren auf die »herrschaftliche« Wohnung im Vorderhaus zugeschnitten. Reiche Berliner bewohnten nunmehr bevorzugt in Westend, Zehlendorf, Wannsee, Lankwitz, Mariendorf, Lichterfelde, Grunewald.
Fortschritte machte der Ausbau des Entwässerungssystems (seit 1876), das bis 1905 auf 1 000 Kilometer Leitungen erweitert wurde und die Abwässer auf Rieselfelder bei Blankenfelde, Buch, Mühlenbeck, Schönerlinde, Hobrechtsfelde (genannt nach dem Schöpfer des Konzepts der Entwässerung), Falkenberg, Mahlow, Großbeeren, Osdorf und Sputendorf leitete. Etwa 24000 Hektar Rieselfläche besaß Berlin schließlich. Damit war eine bedeutende Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in der Stadt erreicht. Dem dienten auch die städtischen Wasserwerke in Tegel (1877) und Friedrichshagen (1893). Während 1870 noch 56 Prozent der Bevölkerung Wasser aus Brunnen bezogen, wurden 1918 schließlich über 97 Prozent zentral versorgt. Das Gesundheitswesen der Stadt erfuhr durch den Bau des Krankenhauses am Friedrichshain (1874), des Städtischen Krankenhauses Moabit sowie des Rudolf-Virchow-Krankenhauses (1906) wesentliche Verbesserungen. Hatten an der Planung Rudolf Virchow und Ferdinand Straßmann hervorragenden Anteil, so machte sich der Stadtbaurat Ludwig Hoffmann um die Ausführung der Bauten hier, dann auch bei den Krankenanstalten in Buch sehr verdient. Der Erholung der Großstädter diente der Treptower Park (seit 1876). Der Ausbau der Stadt war nnit der Erweiterung des Verkehrswesens verbunden, das wiederum auf den Industrie-, Wohn- und Siedlungsbau zurückwirkte. Nach der Übernahme mehrerer privater Eisenbahngesellschaften durch den preußischen Staat in den siebziger Jahren wuchs Berlin zum Hauptknotenpunkt des deutschen Eisenbahnnetzes. Der Bau der Strecke Oranienburg—Gransee—Fürstenberg—Stralsund (1878), der Anschluß Rostock—Warnemünde (1886), der schließlich 1903 eröffnete Trajektverkehr Warnemünde—Gedser und 1909 Saßnitz—Trelleborg erhöhten Berlins Bedeutung im europäischen Nord-Süd-Verkehr. Dem diente auch die Strecke Zossen—Dresden (1875). Der Ost-West-Verkehr wurde mit der Strecke Seddin—Belzig—Wetzlar (1879) erweitert. Der Frachtverkehr auf den Wasserstraßen nahm mit der Spreeregulierung in den achtziger und neunziger Jahren einen neuen Aufschwung. Die durchgehende Regulierung war mit dem Bau neuer Schleusen und Brücken sowie dem Ausbau der Häfen Am Urban, in Schöneberg, dem Nord-, Ost- und Westhafen sowie des Teltowkanals am Anfang des neuen Jahrhunderts verbunden.
Der Vorortverkehr spielte sich zunächst zwischen Haltepunkten ab, die Mindesteinnahmen garantierten — so vor allem im Zusammenhang mit dem Berufsverkehr die Strecke nach Spandau (wo nach 1867 Rüstungsfabriken entstanden) —‚ oder in Verbindung mit dem Ausflugsverkehr (Wannseebahn in den siebziger Jahren). Pendelverkehr mit Vororttarifen entwickelte sich in den achtziger und neunziger Jahren von Berlin nach Tegel, Königs Wusterhausen, Bernau, Erkner—Fürstenwalde, Oranienburg, Strausberg, Zossen und über Potsdam hinaus bis Werder. Den innerstädtischen Straßenverkehr bewältigten noch immer Pferdedroschken, Pferdeomnibusse (seit 1846) und Pferdestraßenbahnen (seit 1865), von privaten Gesellschaften betrieben, 1879 führte Werner Siemens die erste elektrische Bahn der Welt auf der Berliner Gewerbeausstellung vor. 1881 ging die erste »Elektrische« auf einer kurzen Strecke vom Bahnhof Lichterfelde-Ost zur preußischen Hauptkadettenanstalt Lichterfelde in Dauerbetrieb. Erst 1895 fuhr man elektrisch nach Pankow und 1896 nach Treptow. 1902 waren fast alle Straßenbahnlinien elektrifiziert. Im selben Jahr wurde die erste Hochbahn nach etwa fünfjähriger Bauzeit zwischen Warschauer Brücke und Charlottenburg (Knie) mit einer Abzweigung zum Potsdamer Platz in Betrieb genommen. Ihr Ausbau ebenso wie der Auto- und Luftverkehr blieben dem 20. Jahrhundert vorbehalten. Die Möglichkeit, »elektrisch« — per Telefon — miteinander zu verkehren, bestand für die Berliner seit 1881, zunächst für 45 Teilnehmer. So war Berlin in den neunziger Jahren längst über die engen Stadtgrenzen hinausgewachsen, man begann, von »Groß-Berlin« zu sprechen. Die herrschenden Kreise in Stadt und Staat weigerten sich, den Tatsachen durch einen politischen und wirtschaftlichen Zusammenschluß Berlins und seiner Vororte zu einer neuen administrativen Einheit Rechnung zu tragen. Sorge um den Verlust finanzieller Vorteile, konservatives Beharren, ließen sie am althergebrachten Status der Stadt festhalten. Allerdings erhielten stark gewachsene Vororte wie Schöneberg (1898), Rixdorf (1899) und Lichtenberg (1908) Stadtrechte.
1888 eröffnete Oskar Blumenthal das Lessing-Theater, in dem die »Freie Volksbühne« viele ihrer Aufführungen zeigte. Es kamen 1892 das Theater Unter den Linden — seit 1898 als Metropol-Theater in der Behrenstraße —‚ 1896 das Theater des Westens hinzu. Das Musikleben erfuhr durch die Gründung und die Konzerte des Philharmonischen Orchesters (Hermann Wolff, 1882) mit hervorragenden Dirigenten wie Hans von Bülow und Arthur Nikisch sowie durch das Wirken der Königlichen Kapelle mit Felix von Weingartner einen bemerkenswerten Aufschwung. Als Filiale der Königlichen Oper, immer noch durch konservativen Geschmack der Hofkreise beherrscht, arbeitete seit 1895 die Kroll-Oper. Neben den Konzerten und Opernaufführungen entwickelte sich die leichte Muse, die musikalische Unterhaltung. Weit über die Grenzen Berlins hinaus beliebt waren die Varietés, die zahlreichen Tanz- und Musikrevuen, die der Unterhaltung breiter Schichten der Bevölkerung dienten; mit ihren besten Künstlern errangen sie zu Recht die Zustimmung eines breiten Publikums. Regen Zuspruch fanden die Zirkusveranstaltungen, die im Zirkus Schumann (vormals Renz) am Schiffbauerdamm und Zirkus Busch am Bahnhof Börse feste Häuser hatten. Mit dem »Theater lebender Photographien« Max Skladanowskys im Wintergarten des neuen Central-Hotels am Bahnhof Friedrichstraße 1895, der ersten »Wochenschau« Oskar Meßters und dem ersten Kino in der Münzstraße begann von Berlin aus der Aufstieg der Filmkunst. Mehr als ein Dutzend großer Säle, jeweils mehr als 2000 Personen fassend, luden zu Tanz und Unterhaltung wie auch zu politischen Versammlungen: die Germania-Säle in der Chausseestraße, die Sophiensäle im Handwerkervereinshaus in der Sophienstraße, die Concordia-Säle in der Andreasstraße, die Pharus-Säle in der Weddinger Müllerstraße und andere mehr. Um die Jahrhundertwende wurde es auch für Arbeiterfamilien üblich, am Wochenende ins Grüne zu fahren. Pferdewagen, Straßenbahnen, Vorortzüge und Ausflugsdampfer brachten sie in die umliegenden Wälder, in Freibäder, an Seen und Flüsse, »aufs Land«. Neuartige Ausflugslokale mit dem Angebot »Hier können Familien Kaffee kochen« ermöglichten den Aufenthalt auch bei schmalem Geldbeutel.
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Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des KaiserreichesUm die Jahrhundertwende entstanden die ersten Großbäckereien (1898 Wittler, 1903 Thiele, 1904 Danilzik) für die Brotversorgung der Millionenstadt. Etwa zehn Frisch- und Kochwurstfabriken versorgten die Bevölkerung täglich mit Fleisch und Wurstwaren. Die regelmäßige Belieferung mit Milch führte Ende des 19. Jahrhunderts zur Senkung der Säuglingssterblichkeit. Genußmittel produzierten Th. Hildebrand, die Sarotti-Werke (1913 neues Werk in Tempelhof), Gebr. Stollwerck - Köln mit einem Zweigwerk 1900 in Berlin, die Kaffeerösterei Hinz & Küster und seit 1912 die Muratti-Zigarettenfabrik. Die Bierbrauerei war bereits seit den siebziger Jahren in Großbetrieben wie Schultheiß, Patzenhofer, Kindl, Bötzow, Löwen-Böhmisch konzentriert. Der Handel auf Märkten, in den Markthallen sowie durch Konsumvereine behielt seine Bedeutung für die Versorgung.
Den Grundstein der Bildung der Berliner Bevölkerung legten die nach 1870 ausgebauten achtklassigen Volksschulen und die 223 Gemeindeschulen mit über 200 000 Schülern (um 1900) sowie die 47 höheren städtischen und königlichen Schulen. Mit den zahlreichen gewerblichtechnischen, den Fach- und Hochschulen hatte die Hauptstadt im Reich wie im Vergleich mit Zentren anderer Staaten eine Spitzenposition erreicht. Der täglichen Information diente die Presse, die im Zeitungsviertel zwischen Jerusalemer Straße, Zimmer- und Kochstraße ihre Zentralen hatte. Hier herrschten die Konzerne von Mosse, Scherl und Ullstein. Bei Mosse erschien seit 1871 zweimal täglich das »Berliner Tageblatt«, eine bürgerlich-liberale Zeitung mit umfänglichem Handels-, Wirtschafts- und Inseratenteil; 1914 hatte es eine Auflage von 238 000 Exemplaren. Mosse hatte 1891 die Berliner »Volks-Zeitung« aufgekauft, die 1914 als »Berliner Volkszeitung« in 140 000 Exemplaren täglich erschien. Im Scherl-Verlag kam seit 1883 der »Berliner Lokal-Anzeiger« heraus, mit Wirtschafts- und Inseratenteil, vor allem aber mit Stadtnachrichten, Kolportageroman, Reklame, Arbeitsmarkt und Wohnungsanzeiger; er erreichte schon Ende des 19. Jahrhunderts eine Auflage von 167 000 Exemplaren. 1895 erschien bei Scherl die erste illustrierte Sportzeitschrift, und im selben Jahr erwarb er die »Gartenlaube« (seit 1853), ein kleinbürgerliches Unterhaltungsblatt. 1911 vereinigte der Scherl-Konzern sieben Unternehmen und war eng mit der Disconto-Gesellschaft verbunden. 1912 errichtete Ullstein ein neues Verlagshaus an der Koch-/Ecke Charlottenstraße. Dieser Verlag brachte das Massenblatt »Berliner Morgenpost« auf den Markt, seit 1898 an Stelle der älteren »Berliner Zeitung«. Zeitungen im Boulevardstil, mit großen Schlagzeilen und Kurznachrichten war u.a. die »B. Z. am Mittag«. Seit 1894 gab Ullstein die »Berliner Illustrirte Zeitung« (gegründet 1890) heraus, die 1914 mit fast 1 Million Exemplaren die höchste Auflagenziffer aller deutschen Zeitschriften erreichte. 1914 kaufte Ullstein auch die alte »Vossische Zeitung«, ein großbürgerliches Blatt mit 24000 Exemplaren Auflage. Als offizielle deutsche Nachrichtenagentur galt das Wolffsche Telegraphenbüro. Insgesamt erschienen in Berlin und den Orten der Umgebung um 1900 über 800 verschiedene Organe, darunter 36 politische Zeitungen.
Im Gegensatz zur offiziellen Kunst, wie sie Anton von Werner als Präsident der Akademie der Künste selbst pflegte, schufen die Sezessionisten, dann die Expressionisten und andere Künstler ihre Werke, gefördert von Bruno und Paul Cassirer, deren Kreis sich um 1910 Max Pechstein und die Künstler der »Brücke« (Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Ludwig Kirchner und andere) anschlossen. Es ist Persönlichkeiten wie dem preußischen Ministerialdirektor Friedrich Althoff und dem Generaldirektor Wilhelm Bode (seit 1906) zu danken, daß die Museen eine erhebliche Bereicherung ihrer Bestände und mit dem Kaiser-Friedrich-Museum (1904) eine bedeutende Ausdehnung erfuhren und Bleibendes für die Stadt und ihre Bürger geschaffen wurde. Zwischen 1901 und 1908 entstand nach Entwürfen des Stadtbaumeisters Ludwig Hoffmann das Gebäude des Märkischen Museums. Ludwig Hoffmann, Alfred Messel und Peter Behrens setzten mit ihren Bauten architektonische Akzente. Breit entwickelte sich das Konzert- und Theaterleben in Berlin. Aus der Überfülle an Konzerten ragten die der Philharmonie heraus sowie die der Königlichen Kapelle an der Hofoper, die unter Stabführung von Richard Strauss (1898—1912 in Berlin) neuen Aufschwung nahm. Seit 1907 wirkte das Blüthner-Orchester, das spätere Berliner Sinfonieorchester. Bis 1910 entstanden mehrere Konzerthäuser. Volksbelustigung und -unterhaltung wurde in den zahlreichen Vergnügungslokalen, Tanzsälen und Biergärten geboten, oft mit Militärmusik verbunden. Die reiche Berliner Singtradition führten vor allem die Singakademie, die Liedertafel und der Lehrergesangsverein fort. Immer populärer wurden Kabarett, vor allem »Schlager«, Ausstattungsrevuen und die Operette, mit den Namen Victor Hollaender, Paul Lincke, Walter Kollo und Jean Gilbert als Schöpfer, Fritzi Massary, Guido Thielscher, Claire Waldoff und vielen anderen als Interpreten verbunden. In diesem Genre prägte sich die spezifische »Berliner Note« weiter aus und gewann internationale Attraktivität. 1905 öffnete an der Weidendammer Brücke die Komische Oper ihre Pforten. Sehr schnell verbreitete sich die neue Kunst, der Film, von Anfang an durch Erfindung, erste Produktion und Aufführungen mit Berlin verbunden. Nationalen und internationalen Rang erwarb Berlin zudem als Theaterstadt.
So bekannte spätbürgerliche Dichter wie Rainer Maria Rilke und Stefan George weilten in Berlin. Exklusiv blieben ebenfalls die oppositionellen, linksbürgerlichen Zeitschriften »Sturm«, 1910 von Herwarth Walden für die expressionistische »Moderne« gegründet, und die von Franz Pfemfert seit 1911 herausgegebene »Aktion«, an der auch Anarchisten und der Sozialdemokratie nahestehende Künstler arbeiteten: Johannes R. Becher, Georg Heym, Oskar Kanehl, Erwin Piscator, Rudolf Leonhard. Die Entwicklung Deutschlands zur ersten europäischen Industriemacht war auch durch die enge Kooperation von Wissenschaft, Technik und Produktion möglich geworden. Dieser Prozeß vollzog sich in Berlin besonders eindrucksvoll. Berlins wissenschaftliche Einrichtungen, vor allem die Akademie der Wissenschaften, die Universität, die Technische Hochschule Charlottenburg (seit 1879) und die Physikalisch-Technische Reichsanstalt (1887), hatten für wissenschaftliche Forschungen außerordentliche Bedeutung. Die Universität wurde zur größten und bedeutendsten Hochschule Deutschlands ausgebaut. 1910 erhielt sie das Gebäude der Königlichen Bibliothek am Opernplatz (die »Kommode«) zur Nutzung. Neben Neubauten für verschiedene Institute (zum Beispiel .Physik, Chemie, Meereskunde) wurde das Hauptgebäude von 1912 bis 1920 unter Leitung von Ludwig Hoffmann durch Anbau der Nordflügel wesentlich erweitert. Nach vielen Verzögerungen erfolgte von 1897 bis 1917 der für die medizinische Versorgung, die Forschung und Ausbildung dringliche Neu- und Ausbau der Charité, geleitet von Kurt Diestel und gefördert von Friedrich Althoff vom Preußischen Kultusministerium. Zwischen 1903 und 1914 entstand nach Entwürfen von Ernst von Ihne das neue Gebäude der Staatsbibliothek. Die Konzentrierung der Forschung führte 1911 zur Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die mit ihren zunächst auf die Chemie, Biologie und Medizin orientierten Forschungsinstituten in Dahlem entscheidend zur führenden Rolle Deutschlands in der Wissenschaft beitrug. Den wachsenden Anforderungen von Staat und Wirtschaft an die Wissenschaft entsprach ebenso die Gründung der Handelshochschule an der Spandauer Straße (1906). Durch den Ausbau der Institutionen, die Konzentration finanzieller und materieller Mittel, die Zusammenarbeit hervorragender Wissenschaftler, durch neue Formen und Methoden wissenschaftlicher Arbeit, wozu deren wachsende Internationalisierung gehörte, gelangen auf verschiedensten Gebieten bahnbrechende Leistungen, die weltweit Anerkennung fanden. Herausragend waren die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit der Berliner Chemiker und Nobelpreisträger Emil Fischer, Jacobus Henricus van‘t Hoff, der Biochemiker Eduard Buchner, Rudolf Willstätter und der Physiker des berühmten Physikalischen Kolloquiums, die das Werk Hermann von Helmholtz‘ und Gustav Kirchoffs fortführten: August Kundt, Heinrich Rubens, Max Planck, Walther Nernst, Max von Laue, Emil Warburg, Fritz Haber, Albert Einstein und Lise Meitner, die erste weibliche Professorin in Berlin. Berlins medizinische Forschung wurde durch Robert Koch, Paul Ehrlich, Emil von Behring, August von Wassermann, Ernst von Bergmann weltberühmt. Seit 1908/1909 wurden endlich auch die Frauen zur Immatrikulation zugelassen. Über 700 wissenschaftliche Gesellschaften wirkten vor 1914 in Berlin.
Seit 1871 war die Zahl der Einwohner der Stadtgemeinde Berlin mit Ihren 66 Quadratkilometern Fläche von 827.000 auf 2.001.000 im Jahre 1910 gestiegen. In jenem 800 Quadratkilometer umfassenden Gebiet, das 1920 mit Berlin zusammengeschlossen wurde, hatte die Bevölkerung noch stürmischer - von 105.000 (1871) auf 1.724000 (1910) - zugenommen. In diesem Berliner Raum ballten sich fast 4 der 65 Millionen Einwohner des Reiches zusammen. Längst waren Wirtschaft und Wohngebiete über die administrativen Stadtgrenzen hinausgewachsen. Noch immer verhinderten Die widerstrebenden Interessen des "Speckgürtels" den Zusammenschluß des politisch wie ökonomisch verwobenen Ballungsgebietes Berlin und seiner Umgebung zu einer einheitlich verwalteten Großstadt. Um aber den dringendsten wirtschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung zu tragen, wurde am 1. April 1912 der Zweckverband Groß-Berlin gebildet, ein Kommunalverband, der Berlin mit den umliegenden sieben Städten und den Landkreisen Teltow und Niederbarnim zur einheitlichen Regelung einiger Probleme (Verkehr auf Schienen betriebener Fahrzeuge, Baupolizeiordnung, Erwerb und Erhaltung von Freiflächen) zusammenführte. Es kam jedoch nicht zu einer einheitlichen Stadtwirtschaft, Kanalisation, Gas-, Wasser- und Stromversorgung; das Schul- und Armenwesen blieben zersplittert. Bedeutsam für die zusammenwachsende Großstadt waren dann der Erwerb der Großen Berliner Straßenbahn (1919) durch den Verband und der Ankauf von 10.000 Hektar Wald (in Köpenick und Grunewald während des Krieges). Die kommunalpolitische Planlosigkeit, vor allem auch im Wohnungswesen, blieb bestehen. Berlin besaß 1905 etwa eine Million Wohnungen, 400.000 mit einem, 300.000 mit zwei heizbaren Zimmern. 600.000 Menschen lebten zu fünft oder mehr in einem Raum. Stube und Küche, vielfach in engsten Höfen und Kellern, waren Domizil zahlloser Arbeiterfamilien. Die permanente Krise in der Bau- und Wohnungswirtschaft zwang zu größerer »Sachlichkeit«. Neue Tendenzen, von Reformern vorgetragen, führten stellenweise zur aufgelockerten Bauweise, zu anspruchsvolleren Mietshäusern, Siedlungsbauten, Eigenheimen. Die Bestrebungen, Wohnsiedlungen im Grünen anzulegen, nahmen zu. Die von Bruno Taut entworfene und 1913—1915 errichtete »Tuschkastensiedlung« Falkenberg bei Altglienicke oder die von Peter Behrens in Oberschöneweide gestaltete Reihenhaussiedlung (1915) — getragen von Arbeiterbaugenossenschaften — blieben vereinzelte Versuche, dem Elend im Wohnungswesen entgegenzuwirken. Erweitert werden mußte der städtische Nahverkehr. Stadt-, Ring- und Vorortbahn dehnten den Massentransport aus und beförderten 1912 etwa 388 Millionen Menschen. Der Ausbau der Untergrund- und Hochbahn stieß überall auf lokale Widerstände und konzentrierte sich auf Charlottenburg, Schöneberg und Wilmersdorf. 1913 sollte Pankow mit Berlin verbunden werden; die Strecke wurde aber nur bis zum S-Bahn-Nordring (Schönhauser Allee) geführt. Erheblich wuchs der - jetzt zunehmend motorisierte - Straßenverkehr. Nach 1910 war man zu ersten verkehrsregulierenden Maßnahmen (Anfänge einer Verkehrspolizei, Einrichtung von Einbahnstraßen und anderem) gezwungen.
Im ständigen Widerstreit zwischen Fiskus und Stadt entstand von 1907 bis 1913 der Osthafen, ein für den Umschlag und die Lagerhaltung bedeutsames Unternehmen, das durch den Westhafen in Moabit ergänzt werden sollte. Der Baubeginn hier fiel in den Sommer 1914, der Krieg unterbrach das Vorhaben. Pulsierendes Leben erfüllte die Stadt, zeitweilig durch wirtschaftliche Krisen wie die von 1913/1914 gedämpft. Nach der umfassenden Erhebung von 1907 waren in 181.633 Berliner Gewerbebetrieben (Industrie, Baugewerbe; Handel, Verkehr, Gaststätten, Landwirtschaft und Gärtnerei) 812.665 Personen beschäftigt. Davon waren in 16.597 »fabrikmäßigen Betrieben« des Landespolizeibezirks Berlin 321.804 Arbeiter konzentriert, das heißt im Durchschnitt 19,4 Arbeiter je Fabrik. Berlin im 1. WeltkriegAm 1. August 1918 verkündete Kaiser Wilhelm II. vom Balkon des Berliner Schlosses mit den Worten: "Mitten im Frieden überfällt uns der Feind ..." die Mobilmachung. In Berlins Straßen herrschte eine ähnliche Begeisterung wie 1870 - und die gleiche, diesmal trügerische Hoffnung auf einen schnellen Sieg. Auf den Straßen Berlins, auf denen es vier Jahre zuvor in patriotischem Taumel hieß: »Nun ist sie da, die heilige Stunde«, war die Euphorie, mit der die Berliner seit dem 1. August 1914 die ausrückenden freiwilligen Regimenter bejubelt hatten, einer faden Ernüchterung gewichen. Für die Millionen-Bevölkerung Berlins und seiner Vororte folgte auf den Jubel bald eine Zeit der Entbehrungen.
Die reglementierte Versorgung schwankte auch mit dem Ausfall der Ernten und dem Geschick der Bauern, die Ablieferungspflicht zu umgehen. Das Gewicht der Schrippe war schon 1915 von 75 auf 50 Gramm herabgesetzt worden. Das Brotgewicht lag je nach Zuteilung zwischen 2000 und 1600 Gramm, der Wochenration für eine Person. Seit 1916 waren auch Fleischwaren rationiert. Pro Person und Woche sank der Satz schnell auf 250 Gramm. Rund ein Fünftel des noch im Herbst 1915 statistisch festgestellten Verbrauchs. Selbst diese geringen Mengen konnten nicht immer geliefert werden. Im Frühjahr 1916 organisierte die Stadt schließlich die Volksspeisung
mit zehn Hauptküchen und 77 Ausgabestellen in allen Stadtteilen. Im
schlimmen ,,Kohlrübenwinter" 1916/17, als im Februar 1917 "die
Kartoffelnot aufs höchste gestiegen war", erreichte die Zahl der
Essensteilnehmer 152.000. Sie verminderte sich zwar danach, aber der
heiße, trockene Frühsommer 1917, in dem Berlin weder Kartoffeln noch
Gemüse kannte", ließ sie sogar auf 171.000 anschwellen, wie der
damalige Stadtarchivar Ernst Kaeber in seinem Buch ,,Berlin im
Weltkriege" schrieb. Während die militärische Führung ihr Hauptquartier fernab von Berlin hatte, wurde die Stadt zum Zentrum der Rüstungsplanung und Rüstungsproduktion. Walther Rathenau, Nachfolger seines Vaters in der Leitung der AEG, glaubte nicht an den schnellen Sieg und erkannte als erster die Gefahr des Rohstoffmangels. 1914-15 baute er die Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium auf. Doch obwohl die Rüstungsproduktion auf Hochtouren lief, die Löhne stiegen und die Gewerkschaften sich mit den Arbeitgebern arrangierten, hielt der 1914 vom Kaiser mit den Worten: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche" verkündete innenpolitische "Burgfrieden" nur begrenzte Zeit.
Auf der politischen Rechten wurden immer ungehemmter weitreichende "Kriegsziele" aufgestellt, die heftige Debatten auslösten. Der linke Flügel der SPD, die 1914 im Reichstag geschlossen für die ersten Kriegskredite gestimmte hatte, verweigerte schon bald die weitere Unterstützung dieses Krieges und bildete 1916 die "Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (USPD). In ihr gruppierte sich im "Spartakusbund" ein revolutionärer Kern. Doch weniger durch politische Unterwanderung von "links" als durch die schlechte Versorgungslage und die schwindende Hoffnung auf einen schnellen Sieg entstand zunehmende Unruhe in der Bevölkerung.
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Berlin in der Nazi-ZeitNiemals zuvor erlebte die Stadt innerhalb einer so kurzen Zeit derart gravierende Veränderungen wie in den zwölf Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft, in denen Berlin die Hauptstadt des »Dritten Reiches« war - eine rasante, fatale Entwicklung, an deren Ende die völlige »innere und äußere Zerstörung der Stadt« stand. Die äußere Zerstörung, das war die Vernichtung weiter Stadtteile und des historischen Zentrums durch alliierte Bomben und die Aufteilung des »Trümmerhaufens bei Potsdam«, wie Bertolt Brecht 1945 Berlin bezeichnete, in vier Besatzungszonen; die innere Zerstörung war die Vertreibung weiter Teile des künstlerischen und intellektuellen Lebens und vor allem die Vertreibung und Ermordung der Juden. Im Berlin der Jahre 1933—1945 wurde der Zweite Weltkrieg geplant, geleitet und beendet, die Auslöschung des europäischen Judentums erdacht und koordiniert, von Berlin gingen aber auch die entscheidenden Widerstandsbemühungen aus.
Die nach dem Reichstagsbrand vom 28. März 1933 erlassene «Notverordnung« gab den rechtlichen Deckmantel für die schon vorher begonnenen willkürlichen Verhaftungen. Zahlreiche Kommunisten, Sozialdemokraten und Juden wurden in «wilden« Konzentrationslagern oder in dem am 21. März 1933 in Oranienburg eingerichteten KZ inhaftiert und zu Tode gefoltert. Allein in der «Köpenicker Blutwoche« vom 21. bis 27. Juni 1933 wurden von Angehörigen der SA-Standarte 15 in ihren «Sturmlokalen« und im Gefängnis des Amtsgerichts Köpenick 91 Menschen ermordet. Tausende flüchteten aus dem «Dritten Reich«, nicht nur linke Politiker, sondern auch Künstler und Intellektuelle, oftmals jüdischer Abstammung. Bereits im Jahre 1933 emigrierten die Schriftsteller Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Arnold Zweig und Alfred Kerr, die Theaterkünstler Max Reinhardt, Fritz Kortner und Elisabeth Bergner, die bildenden Künstler Georg Grosz und John Heartfleld, die Wissenschaftler Walter Benjamin und Wilhelm Reich. Sie alle hatten in Berlin gelebt und gewirkt, hatten das geistige und kulturelle Leben der Stadt geprägt, hatten Berlin zu einer Metropole von internationalem Rang gemacht davon konnte bereits im Frühjahr 1933 keine Rede mehr sein. Mit dem Ausschluss der Juden aus dem Kulturleben, mit der «Säuberung« — so der nationalsozialistische Sprachgebrauch — der Preußischen Akademie der Künste, deren Ehrenpräsident Max Liebermann im Mai 1933 sein Amt niederlegte, und mit der von Propagandaminister Joseph Goebbels inszenierten Bücherverbrennung auf dem Opernplatz am 10. Mai setzten die Nationalsozialisten den totalitären Anspruch ihrer Ideologie rücksichtslos durch. Das galt auf kulturellem wie auf politischem Gebiet: Mit dem «Ermächtigungsgesetz« vom 23. März hatte sich der Reichstag, der jetzt gegenüber in der Krolloper tagte, selbst ausgeschaltet. Die KPD war bereits verboten, das Karl-Liebknecht-Haus am Bülow-Platz seit dem 8. März von SA besetzt und nach Horst Wessel benannt. Die Gewerkschaften wurden am 2. Mai aufgelöst, nachdem bei einer Massenkundgebung am 1. Mai auf dem Tempelhofer Feld Hitler den «Klassenkampf« für beendet erklärt hatte.
Höhepunkt der propagandistischen Selbstdarstellung des »Dritten Reiches« waren die Olympischen Spiele, die vom 1. bis 16. August 1936 in Berlin stattfanden. Berlin in der Zeit des Nationalsozialismus —das waren zumindest bis Kriegsbeginn nicht nur oder nicht vor allem Ausgrenzung und Zerstörung, Hitlerjugend und Winterhilfswerk, das waren auch die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler, das Staatliche Schauspielhaus am Gendarmenmarkt unter dem karrierebewußten Gustav Gründgens und die Aufführungen vieler Filme mit Emil Jannings oder Ilse Werner in den über 200 Kinos der Stadt. Von den in den zwanziger Jahren berühmten Kabaretts hatte sich das »KadeKo« am Lehniner Platz mit Paul Morgan und Max Adalbert erhalten, und im Staatlichen Schauspielhaus feierte man im November 1935 den 75. Geburtstag Gerhart Hauptmanns mit einer Aufführung seines Dramas »Michael Kramer«, an der Werner Krauss und Bernhard Minetti mitwirkten. Zu dieser seltsamen Normalität, in der Verfolgung und Bedrohung ausgeblendet werden konnten, gehörte auch die Präsentation technischer Neuerungen, etwa die erste Fernsehsendung der Welt am 23. März 1935, die Ankündigung des »Volkswagens« auf der Internationalen Automobilausstellung in den Hallen am Kaiserdamm im Februar 1936 oder der erste Flug eines Hubschraubers, vorgeführt auf dem Tempelhofer Feld im November. Das widersprüchliche Gesicht des Nationalsozialismus mit seiner Mischung aus Regression und Moderne zeigte sich gerade auch in der Hauptstadt des Reiches. Als die Stadt Berlin am 21. April 1933 den Charlottenburger Reichskanzlerplatz, heute Theodor Heuss gewidmet, zum Adolf-Hitler-Platz machte, brach sie mit der Tradition, keine Straßen nach lebenden Personen zu benennen. Aber weder diese Auszeichnung noch die Verleihung der Ehrenbürgerwürde im November 1933 konnte Hitlers Sympathien für Berlin vermehren. Er, der Österreicher, hatte München zur «Stadt der Bewegung« ernannt, hielt in Nürnberg die «Reichsparteitage« ab und wollte seinen Alterssitz in Linz an der Donau nehmen. Berlin war nicht die Stadt Hitlers, Berlin war die Stadt von Joseph Goebbels.
Seine Machtfülle steigerte sich noch einmal, als er am 5. August 1944 auch «Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz « und «Verteidigungskommissar« wurde. Nicht zuletzt in dieser Funktion hatte Goebbels die Stadt bis zum Ende total im Griff. Berlin, wie es war, galt Hitler als eine Notwendigkeit, aber so, wie es war, sollte es nicht bleiben. Schon in «Mein Kampf« hatte er geklagt: «Wie wahrhaft jammervoll aber ist das Verhältnis zwischen Staats- und Privatbau heute geworden. Würde das Schicksal Roms Berlin treffen, so könnten die Nachkommen als gewaltigste Werke unserer Zeit dereinst die Warenhäuser einiger Juden und die Hotels einiger Gesellschaften als charakteristischen Ausdruck der Kultur unserer Tage bewundern. Man vergleiche doch das böse Mißverhältnis, das in einer Stadt wie selbst Berlin zwischen den Bauten des Reiches und denen der Finanz und des Handels herrscht.« Als Reichskanzler und «Führer« hatte Hitler den Willen und die Macht «zur planvollen Gestaltung der Reichshauptstadt Berlin«. Zur Umsetzung seiner größenwahnsinnigen Vorstellungen ernannte er am 30. Januar 1937 Albert Speer zum Generalbauinspektor mit der Aufgabe, «in das Chaos der Berliner Bauentwicklung jene große Linie zu bringen, die dem Geist der nationalsozialistischen Bewegung und dem Wesen der deutschen Reichshauptstadt gerecht wird.« Diese «große Linie« - das sollte vor allem eine fünf Kilometer lange und ganze 120 Meter breite Straße sein, vom Tempelhofer Feld im Süden bis zu einem projektierten Nordbahnhof, mit einer «Großen Halle« auf dem Spreebogen, unter deren 220 Meter hohen Kuppel 180.000 Menschen Platz finden sollten. Bis 1950 hätten die Bauarbeiten gedauert, dann, so Hitlers Vorstellungen, wäre Berlin die Welthauptstadt «Germania«. Zur Verwirklichung dieser abstrusen Pläne kam es nicht; nur einzelne Großvorhaben wurden realisiert: 1936 das Olympiastadion und der Flughafen Tempelhof, mit seiner 1200 Meter langen Fassade der größte zusammenhängende Gebäudekomplex Europas. Unterdrückungswillen und Großmachtfantasien des «Dritten Reichs« sind noch an weiteren Orten im Stadtbild wahrnehmbar, etwa am ebenfalls 1936 eingeweihten Reichsluftfahrtministerium an der Wilhelm-/Leipzigerstraße, dem heutigen Bundesfinanzministerium mit 2.000 Räumen. Über diesen monströsen Block hieß es 1938 in der Zeitschrift «Das Bauen im Neuen Reich«, er stelle «ganz klar das nationalsozialistische Wollen und Können der baulichen Verwahrlosung eines versunkenen Zeitalters entgegen. In einer solchen Umgebung werden die Bauten des neuen Reiches zu Fanalen.«
Von Anfang an hatte es gegen die Nationalsozialisten in Berlin Widerstand gegeben - das lag vor allem daran, dass in der Hauptstadt die logistischen Zentren des Reiches und beinahe aller Organisationen lagen. So kam denn auch der vereinzelte Widerstand aus allen politischen Lagern, von den Kommunisten bis zu den Konservativen, und aus allen Interessengruppen, von den Gewerkschaften bis zu den Kirchen. In Berlin gegründet wurden der Pfarrernotbund und die Bekennende Kirche, deren führende Vertreter der Dahlemer Pastor Martin Niemöller und der Theologe Dietrich Bonhoeffer waren. Hier konspirierten Wilhelm Canaris und Hans Oster im Amt Abwehr des Reichskriegsministeriums, hier operierte in den Jahren 1942—1944 die kommunistische Saefkow-Jacob-Gruppe, hier verübte die Gruppe um Herbert Baum am 18. Mai 1942 den Brandanschlag auf die Ausstellung »Das Sowjet-Paradies« im Lustgarten, und von hier, vom Sitz des Oberkommando der Wehrmacht in der heutigen Stauffenbergstraße, sollte nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 der Umsturz realisiert werden. So war Berlin »Hauptstadt des Widerstands«, aber die Stadt war auch das Zentrum des Terrors. In Berlin lag mit dem Reichssicherheitshauptamt in der Prinz-Albrecht-Straße die Zentrale von Gestapo und Sicherheitsdienst der SS, nicht weit davon entfernt, in der Bellevuestraße am Potsdamer Platz, der Volksgerichtshof. Über 5200 Todesurteile fällte dieses Unterdrückungs- und Willkürinstrument, seit 1942 unter dem Vorsitz des »Blutrichters« Roland Freisler. Zahlreiche dieser Urteile wurden in der Strafanstalt Plötzensee, an der Nordgrenze Charlottenburgs zum Wedding, durch Fallbeil oder den Strick vollstreckt. In Plötzensee starben Julius Leber, Helmut James Graf von Moltke und Carl Friedrich Goerdeler. Andere politische Häftlinge in Berlin wurden ohne Todesurteil ermordet, etwa Albrecht Haushofer am 23. April 1945, als die Rote Armee bereits in Berlin kämpfte. In der Haftanstalt Lehrter Straße in Moabit hatte Haushofer die postum veröffentlichten Moabiter Sonette verfaßt.
Vorläufiger drastischer Höhepunkt der anti-jüdischen Maßnahmen war ein organisierter Pogrom in der Nacht vom 9. November, die so genannte »Reichskristallnacht«, bei der überall in Deutschland Synagogen geplündert und in Brand gesteckt, Tausende von Juden mißhandelt und verhaftet wurden. Fast alle Synagogen Berlins wurden zerstört oder beschädigt, 12.000 Juden in Konzentrationslager verschleppt, vor allem in das im Juli 1936 eingerichtete KZ Sachsenhausen, nur 25 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Nach dem Novemberpogrom wurde die gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden verstärkt. So erfolgte am 6. Dezember 1938 das Verbot des Besuchs von Theatern, Kinos, Kabaretts, Museen und Sportplätzen und der Erlaß eines «Judenbanns« für das Regierungsviertel: Juden wurde verboten, Teile der Wilhelm-, Leipziger und der Voßstraße sowie Unter den Linden zu betreten. Nach vielen weiteren Schikanierungen begannen im Oktober 1941 Deportationen nach Ghettos in Lodz, Riga und anderen Städten, am 11. Juli 1942 ging der erste Transport nach Auschwitz aus Berlin ab. Die Juden hatten sich in der Synagoge Levetzowstraße in Tiergarten oder im ehemaligen jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße in Mitte einzufinden, von wo sie zu den Deportationsbahnhöfen Putlitzstraße oder Grunewald gebracht wurden. Die zunächst Verbleibenden waren zur Zwangsarbeit verpflichtet, im Februar 1943 jedoch wurden auch sie verhaftet. «Wir schaffen die Juden nun endgültig aus Berlin heraus«, notierte Goebbels am 2. März in sein Tagebuch. Eine Gruppe aber mußte er ausnehmen: die in »Mischehen« lebenden Männer. Deren nichtjüdische Ehefrauen hatten gegen die Verhaftung ihrer Angehörigen in der Rosenstraße öffentlich protestiert - die einzige Demonstration gegen die Deportationen spielte sich in der Reichshauptstadt ab. So waren die meisten der etwa 8.000 Juden, die sich bei Kriegsende in Berlin aufhielten, durch ihre Ehe geschützt, einige hatten im Untergrund, zum Teil versteckt in Kleingartenkolonien oder dem jüdischen Friedhof Weißensee überleben können. Mehr als 160.000 Juden hatten 1933 in Berlin gelebt, davon konnten 90.000 emigrieren, 55.000 wurden deportiert und ermordet, etwa 7.000 starben durch Selbstmord.
In den folgenden Jahren nahm — bei mitunter auch 1800 Kilogramm schwere Bomben zum Einsatz. Ein solcher »Wohnblockknacker« brachte am 7./8. September 1941 am Pariser Platz ein Haus zum Einsturz und tötete 100 Menschen. Im Winter 1943/44 ging die Royal Air Force zu Flächenbombardements über, an den bei der »Battle of Berlin« geflogenen Großangriffen waren jeweils 800 und mehr Bomber beteiligt. Im August 1943 rief Goebbels zur Evakuierung Berlins auf. Innerhalb von fünf Monaten verließen mehr als eine Million Frauen, Kinder und Alte die Stadt. Insgesamt kamen beim Luftkrieg in Berlin etwa 50.000 Menschen ums Leben, nicht eingerechnet eine unbekannte Zahl von Vermißten. Fast alle Bezirke wurden zum Ziel von Bomben; Moabit im November 1941, Dahlem und Tempelhof im Januar, Wilmersdorf und das Zentrum im Februar 1943. Das Charlottenburger Schloß, Rathaus und Gedächtniskirche sowie das gesamte Hansaviertel wurden im November und Dezember 1943 zerstört, im Oktober 1944 die Spandauer Altstadt, das Zeitungsviertel und das Schloß, noch im April 1945 wurden die Gebäude auf der Museumsinsel getroffen. 28,5 Quadratkilometer Stadtfläche wurden in Trümmer gelegt, 612.000 Wohnungen zerstört. Im Bezirk Mitte betrug die Verlustquote 70, in Friedenau, Schöneberg und Tiergarten 58 Prozent. Weniger Schäden erlitten kriegswichtige Industrieanlagen in Berlin; davon waren bei Kriegsende noch rund 65 Prozent in Betrieb. Die Bomben trugen erst spät dazu bei, die Bevölkerung zu demoralisieren, selbst die Niederlage der 6. Armee in Stalingrad Ende Januar 1943 tat dem Durchhaltewillen keinen Abbruch. Obwohl damit bereits die Kriegswende eingetreten war, fand Goebbels am 18. Februar 1943 bei einer seiner berüchtigsten Hetzreden im Sportpalast auf die Frage nach dem Willen zum »Totalen Krieg« begeisterte Zustimmung: »Ich frage euch: Seid ihr entschlossen, dem Führer in der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastungen zu folgen? (...) Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt vorstellen können?«
So erklangen bei einem Konzert im bereits beschädigten Schauspielhaus noch Arien aus der »Zauberflöte«. Das war am 21. April 1945, als schon einzelne Granaten sowjetischer Artillerie das Stadtzentrum erreichten. Seit Ende Januar war der Angriff erwartet worden. Den rund 1,6 Millionen sowjetischen Kämpfern standen etwa 90.000 Verteidiger gegenüber: 45.000 Soldaten und SS-Männer, 5.000 Angehörige der Hitlerjugend und des Arbeitsdienstes und 40.000 zum »Volkssturm« Aufgebotene. Am 23. April erklärte Goebbels: »Die Stadt Berlin wird bis zum letzten verteidigt. Kämpft mit fanatischer Verbissenheit um Eure Frauen, Kinder und Mütter! Wir werden bestehen. (...) Seid trotzig und kühn. Seid wendig und listenreich. Euer Gauleiter ist bei euch.« Am 25. April meldete der Wehrmachtsbericht: »In der Schlacht um Berlin wird um jeden Fußbreit Boden gerungen. Im Süden drangen die Sowjets bis in die Linie Babelsberg-Zehlendorf-Neukölln vor. Im östlichen und nördlichen Stadtgebiet dauern heftige Straßenkämpfe an.« Während die letzte U-Bahnlinie, zwischen Wittenbergplatz und Ruhleben, an diesem Tag ihren Betrieb einstellte, verkehrte die S-Bahn zum Teil weiterhin. Man könne jetzt, so die Berliner mit Galgenhumor, bequem mit der S-Bahn von der Ost- an die Westfront fahren. Am 28. April hieß es im Wehrmachtsbericht: »In den inneren Verteidigungsring ist der Feind von Norden her in Charlottenburg und von Süden her über das Tempelhofer Feld eingebrochen. Am Halleschen Tor, am Schlesischen Bahnhof und am Alexander-Platz hat der Kampf um den Stadtkern begonnen.«
Am 25. Februar 1947 erließ der Alliierte Kontrollrat den Befehl über die Abschaffung Preußens. Damit war Berlin nicht mehr dessen Hauptstadt.
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