[oktroyierte]
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Wir Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden,
König von Preußen usw. usw. thun kund und fügen zu wissen: daß Wir in
Folge der eingetretenen außerordentlichen Verhältnisse, welche die
beabsichtigte Vereinbarung der Verfassung unmöglich gemacht, und,
entsprechend den dringenden Forderungen des öffentlichen Wohls, in
möglichster Berücksichtigung der von den gewählten Vertretern des Volkes
ausgegangenen umfassenden Vorarbeiten, die nachfolgende
Verfassungs-Urkunde zu erlassen beschlossen haben, vorbehaltlich der am
Schlusse angeordneten Revision derselben im ordentlichen Wege der
Gesetzgebung.
Artikel 1 Alle Landestheile der Monarchie in ihrem gegenwärtigen Umfange bilden das Preußische Staatsgebiet. Artikel 2 Die Gränzen dieses Staatsgebiets können nur durch ein Gesetz verändert werden.
Artikel 3 Die Verfassung und das Gesetz bestimmen, unter welchen Bedingungen die Eigenschaft eines Preußen und die staatsbürgerlichen Rechte erworben, ausgeübt und verloren werden. Artikel 4 Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich. Standesvorrechte finden nicht statt. Die öffentlichen Aemter sind für alle dazu Befähigten gleich zugänglich. Artikel 5 Die persönliche Freiheit ist gewährleistet. Die Bedingungen und Formen, unter welchen eine Verhaftung zulässig ist, sind durch das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit vom 24. September laufenden Jahres bestimmt. Artikel 6 Die Wohnung ist unverletzlich. Das Eindringen in dieselbe und Haussuchungen sind nur in den gesetzlich bestimmten Fällen und Formen gestattet. Die Beschlagnahme von Briefen und Papieren darf, außer bei einer Verhaftung oder Haussuchung, nur auf Grund eines richterlichen Befehles vorgenommen werden. Artikel 7 Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahme-Gerichte und außerordentliche Kommissionen, so weit sie nicht durch diese Verfassungsurkunde für zulässig erklärt werden, sind unstatthaft. Strafen können nur in Gemäßheit des Gesetzes angedroht oder verhängt werden. Artikel 8 Das Eigenthum ist unverletzlich. Es kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohles gegen vorgängige, in dringenden Fällen wenigstens vorläufig festzustellende, Entschädigung nach Maßgabe des Gesetzes entzogen oder beschränkt werden. Artikel 9 Der bürgerliche Tod und die Strafe der Vermögenseinziehung finden nicht statt. Artikel 10 Die Freiheit der Auswanderung ist von Staats wegen nicht beschränkt. Abzugsgelder dürfen nicht erhoben werden. Artikel 11 Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religions-Gesellschaften (Art. 28 und 29) und der gemeinsamen öffentlichen Religions-Uebung wird gewährleistet. Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse und der Theilnahme an irgend einer Religionsgesellschaft. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen. Artikel 12 Die evangelische und die römisch-katholische Kirche, so wie jede andere Religionsgesellschaft, ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig und bleibt im Besitz und Genuß der für ihre Kultus-, Unterrichts- und Wohlthätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds. Artikel 13 Der Verkehr der Religionsgesellschaften mit ihren Oberen ist ungehindert. Die Bekanntmachung ihrer Anordnungen ist nur denjenigen Beschränkungen unterworfen, welchen alle übrigen Veröffentlichungen unterliegen. Artikel 14 Ueber das Kirchenpatronat und die Bedingungen, unter welchen dasselbe aufzuheben, wird ein besonderes Gesetz ergehen. Artikel 15 Das dem Staate zustehende Vorschlags-, Wahl- oder Bestätigungs-Recht bei Besetzung kirchlicher Stellen ist aufgehoben. Artikel 16 Die bürgerliche Gültigkeit der Ehe wird durch deren Abschließung vor den dazu bestimmten Civilstands-Beamten bedingt. Die kirchliche Trauung kann nur nach der Vollziehung des Civilaktes stattfinden. Artikel 17 Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. Artikel 18 [1] Der preußischen Jugend wird durch genügende
öffentliche Anstalten das Recht auf allgemeine Volksbildung gewährleistet. Artikel 19 Unterricht zu ertheilen und Unterrichtsanstalten zu gründen, steht jedem frei, wenn er seine sittliche, wissenschaftliche und technische Befähigung den betreffenden Staatsbehörden nachgewiesen hat. Artikel 20 Die öffentlichen Volksschulen, so wie alle übrigen Erziehungs- und Unterrichtsanstalten stehen unter der Aufsicht eigener, vom Staate ernannter Behörden. Die öffentlichen Lehrer haben die Rechte der Staatsdiener. Artikel 21 [1] Die Leitung der äußeren
Angelegenheiten der Volksschule und die Wahl der Lehrer, welche ihre
sittliche und technische Befähigung den betreffenden Staatsbehörden
gegenüber zuvor nachgewiesen haben müssen, stehen der Gemeinde zu. Artikel 22 [1] Die Mittel zur Errichtung,
Unterhaltung und Erweiterung der öffentlichen Volksschule werden von den
Gemeinden und im Falle des nachgewiesenen Unvermögens ergänzungsweise vom
Staate aufgebracht. Die auf besonderen Rechtstiteln beruhenden
Verpflichtungen Dritter bleiben bestehen. Artikel 23 Ein besonderes Gesetz regelt das gesammte Unterrichtswesen. Der Staat gewährleistet den Volksschullehrern ein bestimmtes auskömmliches Gehalt. Artikel 24 [1] Jeder Preuße hat das Recht, durch
Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Gedanken frei zu
äußern. Artikel 25 Vergehen, welche durch Wort, Schrift Druck oder bildliche Darstellung begangen werden, sind nach den allgemeinen Strafgesetzen zu bestrafen. Vor der erfolgten Revision des Strafrechts wird darüber ein besonderes vorläufiges Gesetz ergehen. Bis zu dessen Erscheinen bleibt es bei den jetzt geltenden allgemeinen Strafgesetzen. Artikel 26 Ist der Verfasser einer Schrift bekannt und im Bereiche der richterlichen Gewalt des Staates, so dürfen Verleger, Drucker und Vertheiler, wenn deren Mitschuld nicht durch andere Thatsachen begründet wird, nicht verfolgt werden. Auf der Druckschrift muß der Verleger und der Drucker genannt sein. Artikel 27 [1] Alle Preußen sind berechtigt, sich
ohne vorgängige obrigkeitliche Erlaubniß friedlich und ohne Waffen in
geschlossenen Räumen zu versammeln. Artikel 28 Alle Preußen haben das Recht, sich zu solchen Zwecken, welche den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, in Gesellschaften zu vereinigen. Artikel 29 Die Bedingungen, unter welchen Korporationsrechte ertheilt oder verweigert werden, bestimmt das Gesetz. Artikel 30 Das Petitionsrecht steht allen Preußen zu. Petitionen unter einem Gesammtnamen sind nur Behörden und Korporationen gestattet. Artikel 31 Das Briefgeheimniß ist unverletzlich. Die bei strafgerichtlichen Untersuchungen und in Kriegsfällen nothwendigen Beschränkungen sind durch die Gesetzgebung festzustellen. Das Gesetz bezeichnet die Beamten, welche für die Verletzung des Geheimnisses der der Post anvertrauten Briefe verantwortlich sind. Artikel 32 Alle Preußen sind wehrpflichtig. Den Umfang und die Art dieser Pflicht bestimmt das Gesetz. Auf das Heer finden die in den §§ 5, 6 , 27, 28 enthaltenen Bestimmungen in soweit Anwendung, als die militärischen Disziplinar-Vorschriften nicht entgegen stehen. Artikel 33 [1] Die bewaffnete Macht besteht: aus dem stehenden
Heere, der Landwehr, der Bürgerwehr. Artikel 34 Die bewaffnete Macht kann zur Unterdrückung innerer Unruhen und zur Ausführung der Gesetze nur auf Requisition der Civil-Behörden und in den vom Gesetze bestimmten Fällen und Formen verwendet werden. Artikel 35 Die Einrichtung der Bürgerwehr ist durch ein besonderes Gesetz geregelt. Artikel 36 Das Heer steht im Kriege und im Dienste unter der Militär-Kriminal-Gerichtsbarkeit und unter dem Militär-Straf-Gesetzbuch; außer dem Kriege und dem Dienste unter Beibehaltung der Militär-Kriminal-Gerichtsbarkeit unter den allgemeinen Strafgesetzen. Die Bestimmungen über die militärische Disziplin im Kriege und Frieden, sowie die näheren Festsetzungen über den Militär-Gerichtsstand bleiben Gegenstand besonderer Gesetze. Artikel 37 Das stehende Heer darf nicht berathschlagen. Ebensowenig darf es die Landwehr, wenn sie zusammenberufen ist. Auch wenn sie nicht zusammenberufen ist, sind Versammlungen und Vereine der Landwehr zur Berathung militärischer Befehle und Anordnungen nicht gestattet. Artikel 38 Die Errichtung von Lehen und die Stiftung von Familien-Fideikommissen ist untersagt. Die bestehenden Lehen und Familien-Fideikommisse sollen durch gesetzliche Anordnung in freies Eigenthum umgestaltet werden. Artikel 39 Vorstehende Bestimmungen (Art. 38) finden auf die Thronlehen, das Königliche Haus- und Prinzliche Fideikommiß, sowie auf die außerhalb des Staates belegenen Lehen und die ehemals reichsunmittelbaren Besitzungen und Fideikommisse, in sofern letztere durch das deutsche Bundesrecht gewährleistet sind, zur Zeit keine Anwendung. Die Rechtsverhältnisse derselben sollen durch besondere Gesetze geordnet werden. Artikel 40 [1] Das Recht der freien Verfügung über das
Grundeigenthum unterliegt keinen anderen Beschränkungen, als denen der
allgemeinen Gesetzgebung. Die Theilbarkeit des Grundeigenthums und die
Ablösbarkeit der Grundlasten wird gewährleistet.
Artikel 41 Die Person des Königs ist unverletztlich. Artikel 42 Seine Minister sind verantwortlich. - Alle Regierungs-Akte des Königs bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung eines Ministers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt. Artikel 43 Dem Könige allein steht die vollziehende Gewalt zu. Er ernennt und entläßt die Minister. Er befiehlt die Verkündigung der Gesetze und erläßt unverzüglich die zu deren Ausführung nöthigen Verordnungen. Artikel 44 Der König führt den Oberbefehl über das Heer. Artikel 45 Er besetzt alle Stellen in demselben, sowie in den übrigen Zweigen des Staatsdienstes, in sofern nicht das Gesetz ein Anderes verordnet. Artikel 46 Der König hat das Recht, Krieg zu erklären, Frieden zu schließen und Verträge mit fremden Regierungen zu errichten. Handelsverträge, sowie andere Verträge, durch welche dem Staate Lasten oder einzelnen Staatsbürgern Verpflichtungen auferlegt werden, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Zustimmung der Kammern. Artikel 47 [1] Der König hat das Recht der
Begnadigung und Strafmilderung. Artikel 48 [1] Dem Könige steht die Verleihung von
Orden und anderen mit Vorrechten nicht verbundenen Auszeichnungen zu. Artikel 49 Der König beruft die Kammern und schließt ihre Sitzungen. Er kann sie entweder beide zugleich oder nur eine auflösen. Es müssen aber in einem solchen Falle innerhalb eines Zeitraums von 40 Tagen nach der Auflösung die Wähler und innerhalb eines Zeitraums von 60 Tagen nach der Auflösung die Kammern versammelt werden. Artikel 50 Der König kann die Kammern vertagen. Ohne deren Zustimmung darf diese Vertagung die Frist von 30 Tagen nicht übersteigen und während derselben Session nicht wiederholt werden. Artikel 51 Die Krone ist, den Königlichen Hausgesetzen gemäß, erblich in dem Mannsstamme des Königlichen Hauses nach dem Rechte der Erstgeburt und der agnatischen Linealfolge. Artikel 52 [1] Der König wird mit Vollendung des 18.
Lebensjahres volljährig. Artikel 53 Ohne Einwilligung beider Kammern kann der König nicht zugleich Herrscher fremder Reiche sein. Artikel 54 Im Fall der Minderjährigkeit des Königs vereinigen sich beide Kammern zu Einer Versammlung, um die Regentschaft und die Vormundschaft anzuordnen, in sofern nicht schon durch ein besonderes Gesetz für Beides Vorsorge getroffen ist. Artikel 55 Ist der König in der Unmöglichkeit zu regieren, so beruft der Nächste zur Krone oder Derjenige, der nach den Hausgesetzen an dessen Stelle tritt, beide Kammern, um in Gemäßheit des Artikels 54 zu handeln. Artikel 56 [1] Die Regentschaft kann nur einer
Person übertragen werden. Artikel 57 Dem Kron-Fideikommiß-Fonds verbleibt die durch das Gesetz vom 17. Januar 1820 auf die Einkünfte der Domainen und Forsten angewiesene Rente.
Artikel 58 [1] Die Minister, sowie die zu ihrer
Vertretung abgeordneten Staatsbeamten, haben Zutritt zu jeder Kammer und
müssen auf ihr Verlangen zu jeder Zeit gehört werden. Artikel 59 [1] Die Minister können durch Beschluß
einer Kammer wegen des Verbrechens der Verfassungsverletzung, der Bestechung
und des Verrathes angeklagt werden. Ueber solche Anklage entscheidet der
oberste Gerichtshof der Monarchie in vereinigten Senaten. So lange noch zwei
oberste Gerichtshöfe bestehen, treten dieselben zu obigem Zwecke zusammen.
Artikel 60 [1] Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch
den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Artikel 61 [1] Dem Könige, sowie jeder Kammer steht
das Recht zu, Gesetze vorzuschlagen. Artikel 62 Die erste Kammer besteht aus 180 Mitgliedern. Artikel 63 Die Mitglieder der ersten Kammer werden durch Provinzial-, Bezirks- und Kreisvertretern gewählt (Artikel 104). Die Provinzial-, Bezirks- und Kreisvertreter bilden, nach näherer Bestimmung des Wahlgesetzes, die Wahlkörper und wählen die nach der Bevölkerung auf die Wahlbezirke fallende Zahl der Abgeordneten. Bei der Revision der Verfassungsurkunde bleibt zu erwägen, ob ein Theil der Mitglieder der ersten Kammer vom Könige zu ernennen und ob den Oberbürgermeistern der großen Städte, sowie den Vertretern der Universitäten und Akademien der Wissenschaften und der Künste ein Sitz in der Kammer einzuräumen sein möchte. Artikel 64 Die Legislaturperiode der ersten Kammer wird auf sechs Jahre festgesetzt. Artikel 65 Wählbar zum Mitgliede der ersten Kammer ist jeder Preuße, der das 40. Lebensjahr vollendet, den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftiger richterlicher Erkenntnisse nicht verloren und bereits fünf Jahre lang dem preußischen Staatsverbande angehört hat. Artikel 66 Die zweite Kammer besteht aus 350 Mitgliedern. Die Wahlbezirke werden nach Maaßgabe der Bevölkerung festgestellt. Artikel 67 Jeder selbstständige Preuße, welcher das 24. Lebensjahr vollendet, nicht den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Erkenntnisses verloren hat, ist in der Gemeinde, worin er seit sechs Monaten seinen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, stimmberechtigter Urwähler, in sofern er nicht aus öffentlichen Mitteln Armenunterstützung erhält. Bei der Revision der Verfasssungsurkunde bleibt zu erwägen, ob nicht ein anderer Wahlmodus, namentlich der der Eintheilung nach bestimmten Klassen für Stadt und Land, wobei sämmtliche bisherige Urwähler mitwählen, vorzuziehen sein möchte. Artikel 68 Die Urwähler einer jeden Gemeinde wählen auf jede Vollzahl von 250 Seelen ihrer Bevölkerung einen Wahlmann. Artikel 69 Die Abgeordneten werden durch die Wahlmänner erwählt. Die Wahlbezirke sollen so organisirt werden, daß mindestens zwei Abgeordnete von einem Wahlkörper gewählt werden. Artikel 70 Die Legislaturperiode der zweiten Kammer wird auf drei Jahre festgesetzt. Artikel 71 Zum Abgeordneten der zweiten Kammer ist jeder Preuße wählbar, der das dreißigste Lebensjahr vollendet, den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Erkenntnisses nicht verloren und bereits ein Jahr lang dem preußischen Staatsverbande angehört hat. Artikel 72 Die Kammern werden nach Ablauf ihrer Legislaturperiode neu gewählt. Ein Gleiches geschieht im Falle der Auflösung. In beiden Fällen sind die bisherigen Mitglieder wieder wählbar. Artikel 73 Das Nähere über die Ausführung der Wahlen zu beiden Kammern bestimmt das Wahl-Ausführungsgesetz. Artikel 74 Stellvertreter für die Mitglieder der beiden Kammern werden nicht gewählt. Artikel 75 Die Kammern werden durch den König regelmäßig im Monat November jeden Jahres, und außerdem, so oft es die Umstände erheischen, einberufen. Artikel 76 [1] Die Eröffnung und die Schließung der
Kammern geschieht durch den König in Person oder durch einen dazu von ihm
beauftragten Minister in einer Sitzung der vereinigten Kammern. Artikel 77 [1] Jede Kammer prüft die Legitimation
ihrer Mitglieder und entscheidet darüber. Sie regelt ihren Geschäftsgang
durch eine Geschäftsordnung und erwählt ihren Präsidenten, ihre
Vicepräsidenten und Schriftführer. Artikel 78 Die Sitzungen beider Kammern sind öffentlich. Jede Kammer tritt auf den Antrag ihres Präsidenten oder von 10 Mitgliedern zu einer geheimen Sitzung zusammen, in welcher dann zunächst über diesen Antrag zu beschließen ist. Artikel 79 [1] Keine der beiden Kammern kann einen
Beschluß fassen, wenn nicht die Mehrheit ihrer Mitglieder anwesend ist. Artikel 80 [1] Jede Kammer hat für sich das Recht,
Adressen an den König zu richten. Artikel 81 Eine jede Kammer hat die Befugniß, Behufs ihrer Information Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen. Artikel 82 Die Mitglieder beider Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Ueberzeugung und sind an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden. Artikel 83 [1] Sie können weder für ihre Abstimmungen
in der Kammer, noch für ihre darin ausgesprochenen Meinungen zur
Rechenschaft gezogen werden. Artikel 84 [1] Die Mitglieder der ersten Kammer
erhalten weder Reisekosten noch Diäten.
Artikel 85 [1] Die richterliche Gewalt wird im Namen
des Königs durch unabhängige, keiner anderen Autorität als der des Gesetzes
unterworfene Gerichte ausgeübt. Artikel 86 [1] Die Richter werden vom Könige oder in
dessen Namen auf ihre Lebenszeit ernannt. Artikel 87 Den Richtern dürfen andere besoldete Staatsämter nicht übertragen werden. Ausnahmen sind nur auf Grund eines Gesetzes zulässig. Artikel 88 Die Organisation der Gerichte wird durch das Gesetz bestimmt. Artikel 89 Zu einem Richteramte darf nur der berufen werden, welcher sich zu demselben nach Vorschrift der Gesetze befähigt hat. Artikel 90 [1] Gerichte für besondere Klassen von
Angelegenheiten, insbesondere Handels- und Gewerbegerichte, sollen im Wege
der Gesetzgebung an den Orten errichtet werden, wo das Bedürfniß solche
erfordert. Artikel 91 Die noch bestehenden beiden obersten Gerichtshöfe sollen zu einem einzigen vereinigt werden. Artikel 92 [1] Die Verhandlungen vor dem erkennenden
Gerichte in Zivil- und Strafsachen sollen öffentlich sein. Die
Oeffentlichkeit kann jedoch durch ein öffentlich zu verkündendes Urtheil
ausgeschlossen werden, wenn sie der Ordnung oder den guten Sitten Gefahr
droht. Artikel 93 Bei den mit schweren Strafen bedrohten Verbrechen, bei allen politischen Verbrechen und bei Preßvergehen erfolgt die Entscheidung über die Schuld des Angeklagten durch Geschworene. Die Bildung des Geschworenengerichts wird durch ein Gesetz geregelt. Artikel 94 Die Kompetenz der Gerichte und Verwaltungsbehörden wird durch das Gesetz bestimmt. Ueber Kompetenzkonflikte zwischen den Verwaltungs- und Gerichtsbehörden entscheidet ein durch das Gesetz bezeichneter Gerichtshof. Artikel 95 Es ist keine vorgängige Genehmigung der Behörden nöthig, um öffentliche Zivil- und Militairbeamte wegen der durch Ueberschreitung ihrer Amtsbefugnisse verübten Rechtsverletzungen gerichtlich zu belangen.
Artikel 96 Die besonderen Rechtsverhältnisse der nicht zum Richterstande gehörigen Staatsbeamten, einschließlich der Staatsanwälte, sollen durch ein Gesetz geregelt werden, welches, ohne die Regierung in der Wahl der ausführenden Organe zweckwidrig zu beschränken, den Staatsbeamten gegen willkürliche Entziehung von Amt und Einkommen angemessenen Schutz gewährt. Artikel 97 Auf die Ansprüche der vor Verkündigung der Verfassungsurkunde etatsmäßig angestellten Staatsbeamten soll im Staatsdienergesetz besondere Rücksicht genommen werden.
Artikel 98 [1] Alle Einnahmen und Ausgaben des Staats
müssen für jedes Jahr im Voraus veranschlagt und auf den
Staatshaushalts-Etat gebracht werden. Artikel 99 Steuern und Abgaben für die Staatskasse dürfen nur, soweit sie in den Staatshaushalts-Etat aufgenommen oder durch besondere Gesetze angeordnet sind, erhoben werden. Artikel 100 [1] In Betreff der Steuern können
Bevorzugungen nicht eingeführt werden. Artikel 101 Gebühren können Staats- oder Kommunalbeamte nur auf Grund des Gesetzes erheben. Artikel 102 Die Aufnahme von Anleihen für die Staatskasse findet nur auf Grund eines Gesetzes statt. Dasselbe gilt von der Uebernahme von Garantieen zu Lasten des Staats. Artikel 103 [1] Zu Etatsüberschreitungen ist die
nachträgliche Genehmigung der Kammern erforderlich. Die Rechnungen über den
Staatshaushalt werden von der Ober-Rechnungskammer geprüft und festgestellt.
Die allgemeine Rechnung über den Staatshaushalt jeden Jahres, einschließlich
einer Uebersicht der Staatsschulden, wird von der Ober-Rechnungskammer zur
Entlastung der Staatsregierung den Kammern vorgelegt.
Artikel 104 Das Gebiet des Preußischen Staates zerfällt in
Provinzen, Bezirke, Kreise und Gemeinden, deren Vertretung und Verwaltung
durch besondere Gesetze, unter Festhaltung folgender Grundsätze, näher
bestimmt wird:
Artikel 105 [1] Gesetze und Verordnungen sind nur
verbindlich, wenn sie zuvor in der vom Gesetze vorgeschriebenen Form bekannt
gemacht worden sind. Artikel 106 Die Verfassung kann auf dem ordentlichen Wege der Gesetzgebung abgeändert werden, wobei in jeder Kammer die gewöhnliche absolute Stimmenmehrheit genügt. Artikel 107 Die Mitglieder der beiden Kammern und alle Staatsbeamten haben dem Könige und der Verfassung Treue und Gehorsam zu schwören. Artikel 108 Die bestehenden Steuern und Abgaben werden forterhoben, und alle Bestimmungen der bestehenden Gesetzbücher, einzelnen Gesetze und Verordnungen, welche der gegenwärtigen Verfassung nicht zuwiderlaufen, bleiben in Kraft, bis sie durch ein Gesetz abgeändert werden. Artikel 109 Alle durch die bestehenden Gesetze angeordneten Behörden bleiben bis zur Ausführung der sie betreffenden organischen Gesetze in Thätigkeit. Artikel 110 Für den Fall eines Krieges oder Aufruhrs können die Artikel 5, 6,7, 24, 25, 26, 27 und 28 der Verfassungsurkunde zeit- und distriktsweise außer Kraft gesetzt werden. Die näheren Bestimmungen darüber bleiben einem besonderen Gesetze vorbehalten. Bis dahin bewendet es bei den in dieser Beziehung bestehenden Vorschriften.
Artikel 111 [1] Sollten durch die für Deutschland
festzustellende Verfassung Abänderungen des gegenwärtigen
Verfassungsgesetzes nöthig werden, so wird der König dieselben anordnen und
diese Anordnungen den Kammern bei ihrer nächsten Versammlung mittheilen. Artikel 112 [1] Die gegenwärtige Verfassung soll
sofort nach dem ersten Zusammentritt der Kammern einer Revision auf dem Wege
der Gesetzgebung (Artikel 60 und 106) unterworfen werden. Friedrich
Wilhelm
[revidierte] Wir Friedrich Wilhelm von Gottes Gnaden, König von Preußen etc. etc. thun kund und fügen zu wissen, daß Wir, nachdem die von Uns unterm 5. Dezember 1848 vorbehaltlich der Revision im ordentlichen Wege der Gesetzgebung verkündigte und von beiden Kammern Unseres Königreichs anerkannte Verfassung des preußischen Staats der darin angeordneten Revision unterworfen ist, die Verfassung in Uebereinstimmung mit beiden Kammern endgültig festgestellt haben. Wir verkünden demnach dieselbe als Staatsgrundgesetz, wie folgt:
Artikel 1 Alle Landestheile der Monarchie in ihrem gegenwärtigen Umfange bilden das preußische Staatsgebiet. Artikel 2 Die Gränzen dieses Staatsgebiets können nur durch ein Gesetz verändert werden.
Artikel 3 Die Verfassung und das Gesetz bestimmen, unter welchen Bedingungen die Eigenschaft eines Preußen und die staatsbürgerlichen Rechte erworben, ausgeübt und verloren werden. Artikel 4 Alle Preußen sind vor dem Gesetz gleich. Standesvorrechte finden nicht statt. Die öffentlichen Aemter sind, unter Einhaltung der von den Gesetzen festgestellten Bedingungen, für alle dazu Befähigten gleich zugänglich. Artikel 5 Die persönliche Freiheit ist gewährleistet. Die Bedingungen und Formen, unter welchen eine Beschränkung derselben, insbesondere eine Verhaftung zulässig ist, werden durch das Gesetz bestimmt. Artikel 6 Die Wohnung ist unverletzlich. Das Eindringen in dieselbe und Haussuchungen, so wie die Beschlagnahme von Briefen und Papieren sind nur in den gesetzlich bestimmten Fällen und Formen gestattet. Artikel 7 Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte und außerordentliche Kommissionen sind unstatthaft. Artikel 8 Strafen können nur in Gemäßheit des Gesetzes angedroht oder verhängt werden. Artikel 9 Das Eigenthum ist unverletzlich. Es kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohles gegen vorgängige, in dringenden Fällen wenigstens vorläufig festzustellende Entschädigung nach Maaßgabe des Gesetzes entzogen oder beschränkt werden. Artikel 10 Der bürgerliche Tod und die Strafe der Vermögenseinziehung finden nicht statt. Artikel 11 Die Freiheit der Auswanderung kann von
Staatswegen nur in Bezug auf die Wehrpflicht beschränkt werden. Artikel 12 Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, die Vereinigung zu Religionsgesellschaften (Art. 30 und 31) und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübung wird gewährleistet. Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen. Artikel 13 Die Religionsgesellschaften, so wie die geistlichen Gesellschaften, welche keine Korporationsrechte haben, können diese Rechte nur durch besondere Gesetze erlangen. Artikel 14 Die christliche Religion wird bei denjenigen Einrichtungen des Staats, welche mit der Religionsübung im Zusammenhange stehen, unbeschadet der im Art. 12 gewährleisteten Religionsfreiheit zum Grunde gelegt. Artikel 15 Die evangelische und die römisch-katholische Kirche, so wie jede andere Religionsgesellschaft, ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig und bleibt im Besitz und Genuß der für ihre Kultus-, Unterrichts- und Wohlthätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds. Artikel 16 Der Verkehr der Religionsgesellschaften mit ihren Oberen ist ungehindert. Die Bekanntmachung kirchlicher Anordnungen ist nur denjenigen Beschränkungen unterworfen, welchen alle übrigen Veröffentlichungen unterliegen. Artikel 17 Ueber das Kirchenpatronat und die Bedingungen, unter welchen dasselbe aufgehoben werden kann, wird ein besonderes Gesetz ergehen. Artikel 18 Das Ernennungs-, Vorschlags-, Wahl- und
Bestätigungsrecht bei Besetzung kirchlicher Stellen ist, so weit es dem
Staate zusteht, und nicht auf dem Patronat oder besonderen Rechtstiteln
beruht, aufgehoben. Artikel 19 Die Einführung der Civilehe erfolgt nach Maaßgabe eines besonderen Gesetzes, was auch die Führung der Civilstandsregister regelt. Artikel 20 Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. Artikel 21 [1] Für die Bildung der Jugend soll durch
öffentliche Schulen genügend gesorgt werden. Artikel 22 Unterricht zu ertheilen und Unterrichtsanstalten zu gründen und zu leiten, steht Jedem frei, wenn er seine sittliche, wissenschaftliche und technische Befähigung den betreffenden Staatsbehörden nachgewiesen hat. Artikel 23 [1] Alle öffentlichen und
Privat-Unterrichts- und Erziehungsanstalten stehen unter der Aufsicht vom
Staate ernannter Behörden. Artikel 24 [1] Bei der Errichtung der öffentlichen
Volksschulen sind die konfessionellen Verhältnisse möglichst zu
berücksichtigen. Artikel 25 [1] Die Mittel zur Errichtung,
Unterhaltung und Erweiterung der öffentlichen Volksschule werden von den
Gemeinden, und im Falle des nachgewiesenen Unvermögens, ergänzungsweise vom
Staate aufgebracht. Die auf besonderen Rechtstiteln beruhenden
Verpflichtungen Dritter bleiben bestehen. Artikel 26 Ein besonderes Gesetz regelt das ganze Unterrichtswesen. Artikel 27 [1] Jeder Preuße hat das Recht, durch
Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern. Artikel 28 Vergehen, welche durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung begangen werden, sind nach den allgemeinen Strafgesetzen zu bestrafen. Artikel 29 [1] Alle Preußen sind berechtigt, sich
ohne vorgängige obrigkeitliche Erlaubniß friedlich und ohne Waffen in
geschlossenen Räumen zu versammeln. Artikel 30 [1] Alle Preußen haben das Recht, sich zu
solchen Zwecken, welche den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, in
Gesellschaften zu vereinigen. Artikel 31 Die Bedingungen, unter welchen Korporationsrechte ertheilt oder verweigert werden, bestimmt das Gesetz. Artikel 32 Das Petitionsrecht steht allen Preußen zu. Petitionen unter einem Gesammtnamen sind nur Behörden und Korporationen gestattet. Artikel 33 Das Briefgeheimniß ist unverletzlich. Die bei strafgerichtlichen Untersuchungen und in Kriegsfällen nothwendigen Beschränkungen sind durch die Gesetzgebung festzustellen. Artikel 34 Alle Preußen sind wehrpflichtig. Den Umfang und die Art dieser Pflicht bestimmt das Gesetz. Artikel 35 [1] Das Heer begreift alle Abtheilungen des stehenden
Heeres und der Landwehr. Artikel 36 Die bewaffnete Macht kann zur Unterdrückung innerer Unruhen und zur Ausführung der Gesetze nur in den vom Gesetze bestimmten Fällen und Formen und auf Requisition der Civilbehörden verwendet werden. In letzterer Beziehung hat das Gesetz die Ausnahmen zu bestimmen. Artikel 37 Der Militairgerichtsstand des Heeres beschränkt sich auf Strafsachen und wird durch das Gesetz geregelt. Die Bestimmungen über die Militairdisziplin im Heere bleiben Gegenstand besonderer Verordnungen. Artikel 38 Die bewaffnete Macht darf weder in noch außer dem Dienste berathschlagen oder sich anders, als auf Befehl versammeln. Versammlungen und Vereine der Landwehr zur Berathung militairischer Einrichtungen, Befehle und Anordnungen sind auch dann, wenn dieselbe nicht zusammenberufen ist, untersagt. Artikel 39 Auf das Heer finden die in den Art. 5, 6, 29, 30 und 32 enthaltenen Bestimmungen nur in soweit Anwendung, als die militairischen Gesetze und Disziplinarvorschriften nicht entgegenstehen. Artikel 40 Die Errichtung von Lehen und die Stiftung von Familien-Fideikommissen ist untersagt. Die bestehenden Lehen und Familien-Fideikommisse sollen durch gesetzliche Anordnung in freies Eigenthum umgestaltet werden. Auf Familien-Stiftungen finden diese Bestimmungen keine Anwendung. Artikel 41 Vorstehende Bestimmungen (Artikel 40) finden auf die Thronlehen, das Königliche Haus- und Prinzliche Fideikommiß, sowie auf die außerhalb des Staats belegenen Lehen und die ehemals reichsunmittelbaren Besitzungen und Fideikommisse, insofern letztere durch das deutsche Bundesrecht gewährleistet sind, zur Zeit keine Anwendung. Die Rechtsverhältnisse derselben sollen durch besondere Gesetze geordnet werden. Artikel 42 [1] Das Recht der freien Verfügung über das
Grundeigenthum unterliegt keinen anderen Beschränkungen, als denen der
allgemeinen Gesetzgebung. Die Theilbarkeit des Grundeigenthums und die
Ablösbarkeit der Grundlasten wird gewährleistet.
Artikel 43 Die Person des Königs ist unverletzlich. Artikel 44 Die Minister des Königs sind verantwortlich. Alle Regierungsakte des Königs bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung eines Ministers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt. Artikel 45 Dem Könige allein steht die vollziehende Gewalt zu. Er ernennt und entläßt die Minister. Er befiehlt die Verkündigung der Gesetze und erläßt die zu deren Ausführung nöthigen Verordnungen. Artikel 46 Der König führt den Oberbefehl über das Heer. Artikel 47 Der König besetzt alle Stellen im Heere, sowie in den übrigen Zweigen des Staatsdienstes, sofern nicht das Gesetz ein Anderes verordnet. Artikel 48 Der König hat das Recht, Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, auch andere Verträge mit fremden Regierungen zu errichten. Letztere bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Zustimmung der Kammern, sofern es Handelsverträge sind, oder wenn dadurch dem Staate Lasten oder einzelnen Staatsbürgern Verpflichtungen auferlegt werden. Artikel 49 [1] Der König hat das Recht der
Begnadigung und Strafmilderung. Artikel 50 [1] Dem Könige steht die Verleihung von
Orden und anderen mit Vorrechten nicht verbundenen Auszeichnungen zu. Artikel 51 Der König beruft die Kammern und schließt ihre Sitzungen. Er kann sie entweder beide zugleich oder auch nur eine auflösen. Es müssen aber in einem solchen Falle innerhalb eines Zeitraums von sechzig Tagen nach der Auflösung die Wähler und innerhalb eines Zeitraums von neunzig Tagen nach der Auflösung die Kammern versammelt werden. Artikel 52 Der König kann die Kammern vertagen. Ohne deren Zustimmung darf diese Vertagung die Frist von dreißig Tagen nicht übersteigen und während derselben Session nicht wiederholt werden. Artikel 53 Die Krone ist, den Königlichen Hausgesetzen gemäß, erblich in dem Mannsstamme des Königlichen Hauses nach dem Rechte der Erstgeburt und der agnatischen Linealfolge. Artikel 54 [1] Der König wird mit Vollendung des
achtzehnten Lebensjahres volljährig. Artikel 55 Ohne Einwilligung beider Kammern kann der König nicht zugleich Herrscher fremder Reiche sein. Artikel 56 Wenn der König minderjährig oder sonst dauernd verhindert ist, selbst zu regieren, so übernimmt derjenige volljährige Agnat (Art. 53), welcher der Krone am nächsten steht, die Regentschaft. Er hat sofort die Kammern zu berufen, die in vereinigter Sitzung über die Nothwendigkeit der Regentschaft beschließen. Artikel 57 Ist kein volljähriger Agnat vorhanden und nicht bereits vorher gesetzliche Fürsorge für diesen Fall getroffen, so hat das Staatsministerium die Kammern zu berufen, welche in vereinigter Sitzung einen Regenten erwählen. Bis zum Antritt der Regentschaft von Seiten desselben führt das Staatsministerium die Regierung. Artikel 58 [1] Der Regent übt die dem Könige
zustehende Gewalt in dessen Namen aus. Derselbe schwört nach Einrichtung der
Regentschaft vor den vereinigten Kammern einen Eid, die Verfassung des
Königreichs fest und unverbrüchlich zu halten und in Uebereinstimmung mit
derselben und den Gesetzen zu regieren. Artikel 59 Dem Kron-Fideikommißfonds verbleibt die durch das Gesetz vom 17. Januar 1820 auf die Einkünfte der Domainen und Forsten angewiesene Rente.
Artikel 60 [1] Die Minister, so wie die zu ihrer
Vertretung abgeordneten Staatsbeamten haben Zutritt zu jeder Kammer und
müssen auf ihr Verlangen zu jeder Zeit gehört werden. Artikel 61 [1] Die Minister können durch Beschluß
einer Kammer wegen des Verbrechens der Verfassungsverletzung, der Bestechung
und des Verrathes angeklagt werden. Ueber solche Anklage entscheidet der
oberste Gerichtshof der Monarchie in vereinigten Senaten. So lange noch zwei
oberste Gerichtshöfe bestehen, treten dieselben zu obigem Zwecke zusammen.
Artikel 62 [1] Die gesetzgebende Gewalt wird
gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Artikel 63 Nur in dem Falle, wenn die Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit, oder die Beseitigung eines ungewöhnlichen Nothstandes es dringend erfordert, können, insofern die Kammern nicht versammelt sind, unter Verantwortlichkeit des gesammten Staatsministeriums, Verordnungen, die der Verfassung nicht zuwiderlaufen, mit Gesetzeskraft erlassen werden. Dieselben sind aber den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung sofort vorzulegen. Artikel 64 [1] Dem Könige, so wie jeder Kammer, steht
das Recht zu, Gesetze vorzuschlagen. Artikel 65 [1] Die erste Kammer besteht: Artikel 66 [1] Die Bildung der ersten Kammer in der Art. 65
bestimmten Weise tritt am 7. August des Jahres 1852. ein. Artikel 67 Die Legislatur-Periode der ersten Kammer wird auf sechs Jahre festgesetzt. Artikel 68 [1] Wählbar zum Mitgliede der ersten
Kammer ist jeder Preuße, der das vierzigste Lebensjahr vollendet, den
Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen
Erkenntnisses nicht verloren und bereits fünf Jahre lang dem preußischen
Staatsverbande angehört hat. Artikel 69 Die zweite Kammer besteht aus 350 Mitgliedern. Die Wahlbezirke werden durch das Gesetz festgestellt. Sie können aus einem oder mehreren Kreisen oder aus einer oder mehreren der größeren Städte bestehen. Artikel 70 [1] Jeder Preuße, welcher das fünf und
zwanzigste Lebensjahr vollendet hat und in der Gemeinde, in welcher er
seinen Wohnsitz hat, die Befähigung zu den Gemeindewahlen besitzt, ist
stimmberechtigter Urwähler. Artikel 71 [1] Auf jede Vollzahl von zweihundert und fünfzig Seelen
der Bevölkerung ist ein Wahlmann zu wählen. Die Urwähler werden nach
Maaßgabe der von ihnen zu entrichtenden direkten Staatssteuern in drei
Abtheilungen getheilt, und zwar in der Art, daß auf jede Abtheilung ein
Drittheil der Gesammtsumme der Steuerbeträge aller Urwähler fällt. Artikel 72 [1] Die Abgeordneten werden durch die
Wahlmänner gewählt. Artikel 73 Die Legislatur-Periode der zweiten Kammer wird auf drei Jahre festgesetzt. Artikel 74 Zum Abgeordneten der zweiten Kammer ist jeder Preuße wählbar, der das dreißigste Lebensjahr vollendet, den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Erkenntnisses nicht verloren und bereits drei Jahre dem preußischen Staatsverbande angehört hat. Artikel 75 Die Kammern werden nach Ablauf ihrer Legislatur-Periode neu gewählt. Ein Gleiches geschieht im Falle der Auflösung. In beiden Fällen sind die bisherigen Mitglieder wieder wählbar. Artikel 76 Die Kammern werden durch den König regelmäßig im Monat November jeden Jahres, und außerdem, so oft es die Umstände erheischen, einberufen. Artikel 77 [1] Die Eröffnung und die Schließung der
Kammern geschieht durch den König in Person oder durch einen dazu von ihm
beauftragten Minister in einer Sitzung der vereinigten Kammern. Artikel 78 [1] Jede Kammer prüft die Legitimation
ihrer Mitglieder und entscheidet darüber. Sie regelt ihren Geschäftsgang und
ihre Disziplin durch eine Geschäftsordnung und erwählt ihren Präsidenten,
ihre Vicepräsidenten und Schriftführer. Artikel 79 Die Sitzungen beider Kammern sind öffentlich. Jede Kammer tritt auf den Antrag ihres Präsidenten oder von zehn Mitgliedern zu einer geheimen Sitzung zusammen, in welcher dann zunächst über diesen Antrag zu beschließen ist. Artikel 80 Keine der beiden Kammern kann einen Beschluß fassen, wenn nicht die Mehrheit der gesetzlichen Anzahl ihrer Mitglieder anwesend ist. Jede Kammer faßt ihre Beschlüsse nach absoluter Stimmenmehrheit, vorbehaltlich der durch die Geschäftsordnung für Wahlen etwa zu bestimmenden Ausnahmen. Artikel 81 [1] Jede Kammer hat für sich das Recht,
Adressen an den König zu richten. Artikel 82 Eine jede Kammer hat die Befugniß, Behufs ihrer Information Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen. Artikel 83 Die Mitglieder beider Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Ueberzeugung und sind an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden. Artikel 84 [1] Sie können für ihre Abstimmungen in
der Kammer niemals, für ihre darin ausgesprochenen Meinungen nur innerhalb
der Kammer auf den Grund der Geschäftsordnung (Art. 78) zur Rechenschaft
gezogen werden. Artikel 85 Die Mitglieder der zweiten Kammer erhalten aus der Staatskasse Reisekosten und Diäten nach Maaßgabe des Gesetzes; ein Verzicht hierauf ist unstatthaft.
Artikel 86 [1] Die richterliche Gewalt wird im Namen
des Königs durch unabhängige, keiner anderen Autorität als der des Gesetzes
unterworfene Gerichte ausgeübt. Artikel 87 [1] Die Richter werden vom Könige oder in
dessen Namen auf ihre Lebenszeit ernannt. Artikel 88 Den Richtern dürfen andere besoldete Staatsämter fortan nicht übertragen werden. Ausnahmen sind nur auf Grund eines Gesetzes zulässig. Artikel 89 Die Organisation der Gerichte wird durch das Gesetz bestimmt. Artikel 90 Zu einem Richteramte darf nur der berufen werden, welcher sich zu demselben nach Vorschrift der Gesetze befähigt hat. Artikel 91 [1] Gerichte für besondere Klassen von
Angelegenheiten, insbesondere Handels- und Gewerbegerichte sollen im Wege
der Gesetzgebung an den Orten errichtet werden, wo das Bedürfniß solche
erfordert. Artikel 92 Es soll in Preußen nur Ein oberster Gerichtshof bestehen. Artikel 93 [1] Die Verhandlungen vor dem erkennenden
Gerichte in Civil- und Strafsachen sollen öffentlich sein. Die
Oeffentlichkeit kann jedoch durch einen öffentlich zu verkündenden Beschluß
des Gerichts ausgeschlossen werden, wenn sie der Ordnung oder den guten
Sitten Gefahr droht. Artikel 94 [1] Bei den mit schweren Strafen bedrohten Verbrechen,
bei allen politischen Verbrechen und bei allen Preßvergehen, welche das
Gesetz nicht ausdrücklich ausnimmt, erfolgt die Entscheidung über die Schuld
des Angeklagten durch Geschworene. Artikel 95 Es kann durch ein mit vorheriger Zustimmung der Kammern zu erlassendes Gesetz ein besonderer Schwurgerichtshof errichtet werden, dessen Zuständigkeit die Verbrechen des Hochverraths und diejenigen schweren Verbrechen gegen die innere und äußere Sicherheit des Staats, welche ihm durch das Gesetz überwiesen werden, begreift. Die Bildung der Geschworenen bei diesem Gerichte regelt das Gesetz. Artikel 96 Die Kompetenz der Gerichte und Verwaltungsbehörden wird durch das Gesetz bestimmt. Ueber Kompetenzkonflikte zwischen den Verwaltungs- und Gerichtsbehörden entscheidet ein durch das Gesetz bezeichneter Gerichtshof. Artikel 97 Die Bedingungen, unter welchen öffentliche Civil- und Militairbeamte wegen durch Ueberschreitung ihrer Amtsbefugnisse verübter Rechtsverletzungen gerichtlich in Anspruch genommen werden können, bestimmt das Gesetz. Eine vorgängige Genehmigung der vorgesetzten Dienstbehörde darf jedoch nicht verlangt werden.
Artikel 98 Die besonderen Rechtsverhältnisse der nicht zum Richterstande gehörigen Staatsbeamten, einschließlich der Staatsanwälte, sollen durch ein Gesetz geregelt werden, welches, ohne die Regierung in der Wahl der ausführenden Organe zweckwidrig zu beschränken, den Staatsbeamten gegen willkürliche Entziehung von Amt und Einkommen angemessenen Schutz gewährt.
Artikel 99 [1] Alle Einnahmen und Ausgaben des Staats
müssen für jedes Jahr im Voraus veranschlagt und auf den
Staatshaushalts-Etat gebracht werden. Artikel 100 Steuern und Abgaben für die Staatskasse dürfen nur, so weit sie in den Staatshaushalts-Etat aufgenommen oder durch besondere Gesetze angeordnet sind, erhoben werden. Artikel 101 [1] In Betreff der Steuern können
Bevorzugungen nicht eingeführt werden. Artikel 102 Gebühren können Staats- oder Kommunalbeamte nur auf Grund des Gesetzes erheben. Artikel 103 Die Aufnahme von Anleihen für die Staatskasse findet nur auf Grund eines Gesetzes statt. Dasselbe gilt von der Uebernahme von Garantieen zu Lasten des Staats. Artikel 104 [1] Zu Etats-Ueberschreitungen ist die nachträgliche
Genehmigung der Kammern erforderlich.
Artikel 105 [1] Die Vertretung und Verwaltung der Gemeinden, Kreise,
Bezirke und Provinzen des preußischen Staats wird durch besondere Gesetze
unter Festhaltung folgender Grundsätze näher bestimmt:
Artikel 106 [1] Gesetze und Verordnungen sind
verbindlich, wenn sie in der vom Gesetze vorgeschriebenen Form bekannt
gemacht worden sind. Artikel 107 Die Verfassung kann auf dem ordentlichen Wege der Gesetzgebung abgeändert werden, wobei in jeder Kammer die gewöhnliche absolute Stimmenmehrheit bei zwei Abstimmungen, zwischen welchen ein Zeitraum von wenigstens ein und zwanzig Tagen liegen muß, genügt. Artikel 108 [1] Die Mitglieder der beiden Kammern und
alle Staatsbeamten leisten dem Könige den Eid der Treue und des Gehorsams
und beschwören die gewissenhafte Beobachtung der Verfassung. Artikel 109 Die bestehenden Steuern und Abgaben werden forterhoben, und alle Bestimmungen der bestehenden Gesetzbücher, einzelnen Gesetze und Verordnungen, welche der gegenwärtigen Verfassung nicht zuwiderlaufen, bleiben in Kraft, bis sie durch ein Gesetz abgeändert werden. Artikel 110 Alle durch die bestehenden Gesetze angeordneten Behörden bleiben bis zur Ausführung der sie betreffenden organischen Gesetze in Thätigkeit. Artikel 111 Für den Fall eines Krieges oder Aufruhrs können bei dringender Gefahr für die öffentliche Sicherheit die Artikel 5, 6, 7, 27, 28, 29, 30 und 36 der Verfassungs-Urkunde zeit- und distriktweise außer Kraft gesetzt werden. Das Nähere bestimmt das Gesetz.
Artikel 112 Bis zum Erlaß des im Art. 26 vorgesehenen Gesetzes bewendet es hinsichtlich des Schul- und Unterrichtswesens bei den jetzt geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Artikel 113 Vor der erfolgten Revision des Strafrechts wird über Vergehen, welche durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung begangen werden, ein besonderes Gesetz ergehen. Artikel 114 Bis zur Emanirung der neuen Gemeindeordnung bleibt es bei den bisherigen Bestimmungen hinsichtlich der Polizeiverwaltung. Artikel 115 Bis zum Erlaß des im Art. 72 vorgesehenen Wahlgesetzes bleibt die Verordnung vom 30. Mai 1849, die Wahl der Abgeordneten zur zweiten Kammer betreffend, in Kraft. Artikel 116 Die noch bestehenden beiden obersten Gerichtshöfe sollen zu einem Einzigen vereinigt werden. Die Organisation erfolgt durch ein besonderes Gesetz. Artikel 117 Auf die Ansprüche der vor Verkündigung der Verfassungs-Urkunde etatsmäßig angestellten Staatsbeamten soll im Staatsdienergesetz besondere Rücksicht genommen werden. Artikel 118 [1] Sollten durch die für den deutschen Bundesstaat auf Grund des Entwurfs vom 26. Mai 1849 festzustellende Verfassung Abänderungen der gegenwärtigen Verfassung nöthig werden, so wird der König dieselben anordnen und diese Anordnungen den Kammern bei ihrer nächsten Versammlung mittheilen.
Artikel 119 Das im Artikel 54 erwähnte eidliche Gelöbniß des Königs, so wie die vorgeschriebene Vereidigung der beiden Kammern und aller Staatsbeamten, erfolgen sogleich nach der auf dem Wege der Gesetzgebung vollendeten gegenwärtigen Revision dieser Verfassung (Artikel 62 und 108).
Friedrich Wilhelm.
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